Nach dem Brand ist vor dem Monsun
Clive Mcfield hat keine Angst vor Dieben. Auch Blitz und Donner fürchtet er nicht, erst gestern stürmte es stark. Das Schlimmste, was dem Mann, der für die Caritas im Flüchtlingslager Kutupalong ein Materiallager leitet, passieren kann, ist ein Lieferengpass. "Die Zeit drängt", sagt er, "der Monsun ist fast da. Wir müssen bauen, so schnell es nur geht." Auf das Dach seines Lagers, das bis oben hin voll mit Bambus, Steinen und Drähten ist, prasselt der Regen. "Manchmal," sagt Clive Mcfield, "werde ich richtig unruhig deswegen, aber im Vergleich zum Schicksal der Rohingya sind meine kleinen Ängste überhaupt nichts."
Über 630.000 Menschen leben im Flüchtlingslager Kutupalong im südöstlichen Bangladesch, im Distrikt Cox’s Bazar, benannt nach Captain Hiram Cox, einem Offizier der Britischen Ostindien-Kompanie, der sich hier bereits im 18. Jahrhundert für Geflüchtete eingesetzt hat. Die Rohingya, die heute hier leben, haben kaum jemanden, der für sie Partei ergreift. Laut den Vereinten Nationen sind sie die am stärksten verfolgte Minderheit der Welt. Allein von August bis Oktober 2017 wurden mehr als 700.000 Rohingya aus ihrer Heimat, dem Bundesstaat Rakhine in Myanmar, vertrieben. Ein Großteil von ihnen fand Zuflucht im Flüchtlingscamp Kutupalong.
Bangladesch, selbst eines der ärmsten Länder der Welt, hat von Anfang an signalisiert, dass es die Menschen nur vorübergehend aufnehmen wird. Am sichtbarsten manifestiert sich dies in den Baumaterialien im Lager von Clive Mcfield. Zement, Beton und Stahl gibt es hier nur in kleinen Mengen.
Großstadt aus Bambus und Planen
Gebaut werden darf in der hügeligen Landschaft nur provisorisch, mit Bambus, Planen und ab und an Stahl. Auch die Versorgung mit Strom oder der Zugang zu Wasser sind mangelhaft. Eine langfristige Perspektive bietet Kutupalong keinem, der hier lebt. Und dennoch ist es den Mitarbeitenden der Caritas und anderen Hilfsorganisationen in den vergangenen Jahren gelungen, den Menschen hier nicht nur ein Dach über dem Kopf zu geben. Es gibt Spielplätze für Kinder und psychologische Betreuung für Frauen, die vielfach Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Sogar den Bau von Schulen hatte die Regierung nach anfänglichem Zögern erlaubt. Trotz aller Schwierigkeiten herrschte für eine kurze Zeit lang so etwas wie Normalität.
Doch dann kam Corona.
Und dann kam der Brand.
Am 22. März 2021 gegen 15 Uhr brach im Camp-Abschnitt 8W ein Feuer aus. War es aufgrund eines kaputten Gaskochers? War es eine Müllverbrennung, die außer Kontrolle geriet? Auch heute, Monate später, kennt keiner die Antwort. Sicher ist nur: Das Feuer verbreitete sich in Sekundenschnelle. Mindestens elf Menschen starben, hunderte wurden verletzt. Mehr als 12.000 Unterkünfte brannten nieder, auch Gesundheitseinrichtungen, Lernzentren und Lebensmittelverteilungsstellen. Mehr als 48.000 Männer, Frauen und Kinder hatten kein Dach mehr über dem Kopf.
Für eine kurze Zeit war die Lage der Rohingya-Flüchtlinge wieder ein Thema für die Weltöffentlichkeit, die Tagesschau berichtete über den "Großbrand im Flüchtlingslager". Dann wurde es wieder still, und stellvertretend für so viele Menschen hier saß die 32-Jährige Jaheda Khatun am verkohlten Stamm eines Baumes, ihr Kind auf dem Schoß und klagte: "Wir haben durch die Flucht schon in Myanmar alles verloren. Jetzt ist auch hier alles weg."
Die Aufgabe, die sich den Helfer_innen nun stellte, war so groß wie die Hoffnungslosigkeit der Opfer kurz nach dem Brand. Wie baut man mehr als 10.000 Unterkünfte in weniger als drei Monaten? Denn alle wussten: Im Juni beginnt der Monsun. Aber vor allem: Wie beachtet man dabei auch noch die Abstands- und Hygieneregeln? Ein Corona-Ausbruch, da sind sich alle einig, wäre aufgrund der beengten Lebensverhältnisse ebenso dramatisch wie ein wieder aufflammender Brand.
Auch Familien aus Bangladesch wird geholfen
Der erste und vielleicht wichtigste Schritt war eine schnelle Koordination der Hilfen. Welche Organisation hilft wo? Mit was? Und wie? Die Caritas, die bis zum Zeitpunkt des Brandes in den betroffenen Gegenden nicht aktiv war, stand sofort bereit. Besonders wichtig war dabei, die in den angrenzenden Dörfern lebenden Familien aus Bangladesch nicht zu vergessen.
Schritt zwei: Der Wiederaufbau. Kutupalong ist nicht nur das größte Flüchtlingscamp der Welt, sondern seit dem Brand auch eine der weltweit größten Baustellen. Kräne, Bagger oder Kipplaster sieht man hier jedoch keine. Und selbst wenn es sie gäbe: In dem hügeligen Gelände, das von engen Gassen durchschnitten ist, gäbe es kein Durchkommen für sie. Stattdessen werden Bambusstangen und Bambusmatten geschleppt, Planen auf Hügel hochgerollt und auf der anderen Seite wieder herunter. Kleine Bautrupps arbeiten zu viert oder fünft am Wiederaufbau der Unterkünfte. Immer wieder geht ihr Blick zum Himmel. Kommen schon die Wolken? Wieviel Zeit bleibt uns noch bis zum Monsun?
Und dann ist da noch der Nachschub von Baumaterialien. Haben wir noch genug Bambus? Wie viele Meter Planen sind heute noch da? Strenge Corona-Ausgangssperren in Bangladesch machen den Einkauf nicht leichter. Zum Glück ist von allem noch genug vorhanden. Clive Mcfield ist beruhigt.
Wiederaufbau versus Abstandsregeln
Die Männer auf den Baustellen schwitzen unter ihren Masken zum Schutz vor Covid-19 und halten Abstand, so gut es nur geht. Damit es vor ihren Materiallagern nicht zu Menschenansammlungen kommt, vergibt die Caritas nun Termine. Clive Mcfield, der nichts so sehr fürchtet wie einen Lieferengpass, findet das gut. "Früher gab es hier lange Warteschlangen. Jetzt geht alles zack, zack." Jeder Bautrupp weiß, wann er drankommt, danach zieht er los. Je nach Wetter und Lage der Baustelle braucht er ungefähr eine Woche, dann hat eine Familie wieder ein Dach über dem Kopf. Falls möglich, baut aus jeder Familie ein Angehöriger mit.
So wie der 62-jährige Abdur Rahman. Seine Unterkunft, ein kleiner Bau aus Bambus auf Stelzen, ist gerade fertig geworden. Die Planen, die als Dachabdeckung dienen, leuchten blau. Stolz, wie er danebensteht, könnte man fast meinen, dies hier wäre ein ganz normales Haus und nicht ein Obdach in einem Camp. "Ich weiß, wie hart das Leben unter freiem Himmel ist", sagt er,"Deswegen helfe ich jetzt auch bei meinen Nachbarn mit. So geht es schneller."
Wenn man so will, ist der Wiederaufbau wie eine bezahlte Nachbarschaftshilfe organisiert. Die Betroffenen arbeiten an ihren eigenen Unterkünften mit, danach helfen sie für ein kleines Entgelt anderen Opfern des Brandes. Wer beim Bau von Unterkünften hilft oder Materialien zu den Baustellen trägt, wird pro Tag mit umgerechnet 3,50 Euro bezahlt. Das ist vor allem deshalb eine willkommene Einkommensquelle, weil es den Rohingya verboten ist, außerhalb des Camps zu arbeiten. Von der Caritas engagierte Ingenieure und Bauleiter stehen den Bautrupps mit Rat und Tat zur Seite. Und das nicht ausschließlich beim Wiederaufbau der Unterkünfte. Um diese vor Erdrutschen und Staunässe zu schützen, werden Rückhaltewände und Drainagen angelegt. Und damit man auf den Hügeln leichter von A nach B kommt, werden Wege und Stufen gebaut.
Gemeinsam stark
So stehen am Ende nicht nur wieder die Unterkünfte und bieten Schutz vor Sonne und dem Monsun. Es entstehen auch Gemeinschaften, die sich gegenseitig unterstützen, jenseits der technischen Aspekte des Baus. Denn so sehr die Zeit drängt, damit die Menschen schnell ein Dach über dem Kopf bekommen, werden in Kutupalong bald wieder andere Dinge an Bedeutung gewinnen. Schulen für die Kinder, sichere Begegnungsstätten für Frauen, Trauma-Beratungen auch für Männer. Vielleicht irgendwann auch Perspektiven für die mehr als eine halbe Million Menschen, die hier in Bangladesch und auch sonst nirgendwo wirklich willkommen sind.
Der Regen wird stärker, der Monsun kündigt sich an. Der 62-jährige Abdur Rahman geht nach drinnen. Fürs Erste sind er und seine Familie geschützt.
Von Md. Shojib Ali und Sven Recker, August 2021
Md. Shojib Ali ist Projektkoordinator bei der Caritas Bangladesch. Nach dem Brand am 22. März war er einer der ersten Helfer vor Ort. Er schrieb den Text gemeinsam mit Sven Recker, der noch nicht in Bangladesch war, nach dem Tsunami in Südostasien aber über zwei Jahre für Caritas international beim Wiederaufbau von Häusern geholfen hat.