„Psychosoziale Unterstützung muss bei der Humanitären Hilfe an vorderster Stelle stehen.“
Wer hat Ihnen als Erstes zum Alternativen Nobelpreis gratuliert?
Meine Kolleginnen, sie waren sehr glücklich. Dann meine Familie und unsere Partnerorganisationen. Von überall her habe ich Anrufe erhalten. Binnen weniger Minuten war das, als hätte jemand die Nachricht über den Äther verschickt.
Was musste an Arbeit liegenbleiben, um für die Preisvergabe nach Stockholm zu reisen?
Die tägliche Arbeit meiner Organisation ALDEPA. Zwischen dem 25. November und dem 10. Dezember läuft unsere Kampagne gegen die Gewalt an Frauen und Mädchen. Wir besuchen die Gemeinden, organisieren zahlreiche Treffen mit Frauen und Mädchen. Das ist für mich immer eine sehr intensive und wichtige Zeit. Diese Aktionen fehlen mir ein bisschen, doch ich sagte mir, das ist ja nur ein einziges Mal und die Aktivitäten laufen ja Dank meiner Kolleginnen vor Ort effizient weiter.
1998 haben Sie ALDEPA gegründet, die "Lokale Aktion für partizipative und selbstbestimmte Entwicklung". Warum führen Sie die Begriffe selbstbestimmt und partizipativ im Namen?
Wir schätzen es sehr, wenn eine Veränderung aus dem Inneren einer Person heraus stattfindet. Daher das Attribut partizipativ. Man kann schwerlich jemanden "entwickeln". Wir wollen nicht mit einem fertigen Rezept daherkommen und sagen, dies und jenes gilt es zu tun - selbst dann, wenn eine Person keinen Ausweg mehr sieht oder keinerlei Mittel hat. Wir können eine Richtung aufzeigen und Mittel und Möglichkeiten bereitstellen, damit diese Person die eigenen Fähigkeiten ausbaut, und sie bei ihren eigenen Vorschlägen unterstützen. Daher sprechen wir von einem partizipativen Ansatz.
Den Begriff "selbstbestimmt" habe ich gewählt, weil unsere Rolle keine definierende oder anordnende Rolle sein kann. Wir begleiten, unterstützen und fördern, doch es kommt der Moment, in dem eine Frau Eigenverantwortung übernimmt, ihre eigenen Interessen formuliert und gegenüber der Gesellschaft vertritt und verteidigt. Wir eröffnen mit unserer Arbeit die Chance auf eine eigenständige und selbstbestimmte Entwicklung einer Person, die Gewalt erlitten hat und traumatisiert ist.
Seit der Gründung von ALDEPA hat sich die Sicherheitslage in Nordkamerun deutlich verschlechtert. Wie sieht das konkret aus?
Der äußerste Norden Kameruns ist die ärmste und zugleich bevölkerungsreichste Region des Landes, zudem die Region mit den niedrigsten Einschulungsraten. Viele gesellschaftlich verankerte Gewohnheiten sind für Frauen und Mädchen sehr problematisch. Früher konnte man noch ohne Probleme reisen und sich bedenkenlos außer Hause aufhalten. Kurz vor den 2000er Jahren tauchten dann erste Straßenblockaden auf. Fahrzeuge wurden angehalten und Geld von den Fahrgästen erpresst, teilweise wurde ihr Hab und Gut entwendet. Morde waren zu dieser Zeit eher selten.
Seit 2014 sind die Menschen in der gesamte Region Nordkamerun in ständiger Sorge, von der islamistischen Terrormiliz Boko Haram überfallen und ausgeraubt zu werden. Die ersten Überfälle ereigneten sich entlang der Grenze zu Nigeria, später kam es auch in der Stadt Maroua zu verheerenden Überfällen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten. Zahlreiche Vertriebene aus Nigeria kamen hierher. Frauen wurden während der Feldarbeit die Ohren abgeschnitten, Mädchen vergewaltigt. Die Boko Haram überfielen die Menschen in ihren Häusern, um zu vergewaltigen, zu töten oder um Kinder zu entführen.
2014 wurde der Norden Kameruns zur Roten Zone erklärt. Es kommen keine Touristen mehr, keine Reisenden. Die Überfälle haben zwar im letzten Jahr nachgelassen, es ist ruhiger geworden, doch die Unsicherheit in der Region hat zugenommen. Man kann praktisch nichts mehr tun, ohne an Überfälle zu denken.
Wie hat sich diese Unsicherheit auf Frauen ausgewirkt, auf ihren Alltag und auf ihre Perspektiven?
An erster Stelle sind die Traumata und psychologischen Folgen relevant. Viele Frauen wurden Zeuginnen eines Überfalls. Sie sahen zu, wie ihre Ehemänner ermordet und ihre Kinder vor ihren Augen getötet wurden. Sie mussten miterleben, wie ihre Kinder oder sie selbst entführt wurden. Diese traumatische Erfahrung überschatten alles. Zudem sind die ökonomischen Einbußen enorm: Viele Frauen leben als Vertriebene, und wenn sie vor dem Krieg geflohen sind, dann taten sie das ohne jegliches Hab und Gut. Es ist nicht leicht, traumatisiert und mit leeren Händen ins Leben zurückzufinden, mit Kindern, um die man sich ständig kümmern muss.
Doch auch Frauen, die nicht vertrieben wurden, leiden. Ehemals war der Waren- und Personenverkehr zwischen Nigeria und Kamerun freizügig, viele Frauen fuhren morgens nach Nigeria, um Ware zu beschaffen, die sie tagsüber in Kamerun verkauften. Mit der Krise infolge des Terrors der Boko Haram sind die Grenzen dicht, auch der Großmarkt in Maroua, auf dem Frauen Waren einkauften, war einige Jahre geschlossen. Damit sind die Einkünfte in der Region drastisch zurückgegangen, vor allem die der Frauen. Viele gaben den Handel ganz auf, doch sie fanden keine andere Einkommensquelle. Zudem sind die Preise für jegliche Güter gestiegen. Das trifft die Frauen besonders hart, denn sie sind diejenigen, die auf dem Markt Gemüse und Nahrungsmittel sowie Dinge des täglichen Bedarfs einkaufen.
Welche zusätzlichen Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf diese ohnehin schwierige Lage?
Mit Covid-19 hat sich die wirtschaftliche Not nochmal zugespitzt. Denn die Schulen waren von März bis Oktober 2021 geschlossen. Oft sind es Frauen, die rund um die Schulen Handel treiben, doch mit der Schulschließung mussten sie diese informelle Arbeit aufgeben. Damit wurden sie wirtschaftlich schwer getroffen. Leider wurden viele Mädchen, die wegen geschlossener Schulen zu Hause bleiben mussten, verheiratet. Andere waren einem erhöhten Missbrauchsrisiko ausgesetzt, weil sie von der Familie auf die Straße oder auf Märkte geschickt wurden. Viele wurden in dieser Zeit schwanger und konnten daher nicht zurück in die Schule.
In Kamerun werden Jugendliche, ja sogar Kinder zum Heiraten gezwungen. Was tut der Staat dagegen?
Bestimmungen gegen solche Zwangsheiraten wurden erlassen, doch sie werden kaum angewandt. Zum anderen gibt es Widersprüche und Unklarheiten zwischen den gesetzlichen Bestimmungen. Das angewandte Zivilrecht in Kamerun beinhaltet einen Erlass von 1981, demzufolge ein Mädchen mit 15 Jahren und ein Junge mit 18 Jahren heiraten darf. Zwar hat Kamerun inzwischen mehrere internationale Konventionen unterzeichnet und ratifiziert, die gleiche Rechte für alle Geschlechter konstatieren. Auch in der Präambel der kamerunischen Verfassung steht das so geschrieben: Die Diskriminierung einer Person aufgrund des Geschlechtes ist untersagt.
Jedoch ist die Mehrzahl der Eheschließungen im Norden Kameruns informell und nicht registriert, vor allem traditionelle oder religiöse Formen der Eheschließung. Um das Alter der zu Verheiratenden festzustellen, müsste die Heirat in einem Amt oder beim Dorfvorsteher erfolgen. Nur dann könnte man Heiraten, die ohne deren Kenntnis erfolgen, als nichtig erklären. Der Staat müsste Mechanismen auf den Weg bringen, die es erlauben, Heiraten kommunal zu kontrollieren und damit informelle Eheschließungen zu unterbinden.
Was raten Sie den Mädchen, die Gefahr laufen, zwangsverheiratet zu werden?
Wir haben auf Gemeindeebene Schutzkomitees und Notfallnummern eingerichtet, dort können die Mädchen anrufen oder ein Hilfesignal senden. Das Schutzkomitee leitet dann die notwendigen Schritte ein, um eine bevorstehende Zwangsheirat zu verhindern.
In Schulen arbeiten wir mit den Schülern und Schülerinnen und dem Lehrpersonal. Die Mädchen können das Lehrpersonal ins Vertrauen ziehen. Viele Zwangsheiraten sind auf diese Weise bereits verhindert worden. Und wir haben Mädchenclubs gegründet, in denen die Mädchen sich gegenseitig stützen. Der Mädchenclub kontaktiert eine Vertrauensperson. Wir haben diesen Mechanismus entwickelt und aufgebaut, damit die Mädchen eine drohende Heirat melden können.
Das Ausmaß der Kinderehen und Zwangsverheiratung wurde durch den Terror und die Corona-Pandemie verstärkt. Auch Vertriebene, die nichts mehr hatten, haben sich der Mädchen entledigt, weil sie den armen Familienhaushalten zur Last fielen. Zudem wusste niemand, wie lange die Schulschließung anhält, und von Monat zu Monat erschwerte das die häusliche Situation. So beschlossen viele Eltern, die Mädchen zu verheiraten, um sie aus dem Haus zu haben.
Sie fordern, psychosoziale Unterstützung für Frauen in Notlagen brauche im Kontext von Humanitärer Hilfe mehr Anerkennung. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Eine psychosoziale Unterstützung muss bei jeder Humanitären Hilfe für Gewaltopfer im Vordergrund stehen, denn eine Person, die sich in einer Notlage befindet, ist verzweifelt, vor allem nach Kriegen, bei Vertreibungen und erlittener Gewalt. Stellen Sie sich vor, sie treffen auf eine Frau, die sich nicht mitteilen kann und die keinen Schlaf findet. Der einzige Ausdruck sind ihre Tränen. Eine Frau, sich selber schadet oder sich komplett aufgibt, oder gegenüber ihren Kindern aggressiv wird. Was immer Sie für diese Person tun, bringt ihr nichts, solange Sie nicht die psychische Dimension verstehen. Viele notleidende Frauen sagen, ihr Leben sei der Mühe nicht wert. Um diese Person dazu zu bewegen, sich selbst zu akzeptieren und ein neues Leben zu beginnen, dafür ist die psychosoziale Begleitung die Basis.