Äthiopien: Nothilfe im Kriegsgebiet
Caritas-Experte zur humanitären Katastrophe in Tigray: "Wir geben nicht auf"
Caritas international: Herr Kuebart, Sie waren kürzlich selbst in Äthiopien, um unsere Partner zu unterstützen und dich nach der aktuellen Lage zu erkundigen. Wie hast du die Stimmung vor Ort erlebt?
Patrick Kuebart: Unsere Partner sind in großer Sorge. Sie sehen die ausgeprägte Not und wollen weiter Hilfe leisten. Allerdings ist es momentan sehr schwierig, das zu leisten, was nötig wäre. Dennoch geben sie nicht auf und tun, was sie können.
Worum geht es überhaupt in dem Konflikt im Norden von Äthiopien?
Kuebart: Bewaffnete Konflikte haben oft sehr komplexe Ursachen, aber ich versuche es trotzdem kurz darzustellen: Was sich in Äthiopien abspielt, ist ein Machtkampf zwischen der Nationalregierung und der Volksbefreiungsfront von Tigray, abgekürzt TPLF. Die TPLF hatte für circa 30 Jahre die Macht in Äthiopien inne, hat diese aber 2018 verloren. Die Anführer der Volksbefreiungsfront haben sich daraufhin nach Tigray zurückgezogen - die Region, aus der sie ursprünglich stammen. Kurz darauf ist ein erbitterter Kampf um die Macht im Staat ausgebrochen, zwischen der TPLF und der neuen Nationalregierung unter Premierminister Abiy, der dann schlussendlich, Anfang November 2020, in dieser bewaffneten Auseinandersetzung gemündet ist. Nachdem beide Konfliktparteien in der ersten Jahreshälfte einen Waffenstillstand ausgerufen hatten und derzeit über Friedensgespräche verhandelt wird, gehen die Kämpfe jedoch seit einigen Wochen wieder weiter.
Die Menschen in Äthiopien leiden allerdings nicht nur unter den kriegerischen Auseinandersetzungen. Es droht eine Hungersnot. Was sind hierfür die Ursachen?
Kuebart: Viele Äthiopierinnen und Äthiopier leben in sehr einfachen Verhältnissen, oftmals unterhalb der Armutsgrenze. Etwa 80 Prozent leben von Landwirtschaft. Sie müssen sich und ihre Familien selbst versorgen. Nun wird Äthiopien aber oft von extremen Dürren und Fluten geplagt. Die Menschen haben dann oft nicht genügend zu essen. In Tigray ist die Situation momentan besonders dramatisch, weil Ende letzten Jahres, als der Konflikt entstand, ein Großteil der Ernte vernichtet wurde - zum Teil durch den Konflikt selbst, zum Teil durch die Heuschrecken, oder jetzt die Dürre. Die Menschen konnten kaum Ernte einholen. Das heißt, sie haben akut - jetzt (!) - nichts zu essen. Das besorgt uns und unsere Partner, die dort vor Ort sind, natürlich sehr.
Einige Akteure behaupten, die Menge der Hilfslieferungen, die momentan nach Tigray gelangen, sei zu gering. Wie sehen Sie das?
Kuebart: Es ist richtig, dass es für uns momentan sehr schwierig ist, humanitäre Hilfe in die Region zu bringen und die Menschen zu versorgen. Das liegt zum einen an den kriegerischen Auseinandersetzungen vor Ort, aber auch daran, dass es nur einen Zugang in die Region gibt. Es gibt nur eine Straße, auf der Hilfsgüter nach Tigray gebracht werden können. Um den humanitären Bedarf zu decken, müssten die Hilfswerke ungefähr 70-100 LKW an Hilfsgütern pro Tag in die Region bringen, doch das war schon vor dem Wiederausbrauch der Kämpfe nicht möglich. Zurzeit ist der Zugang aufgrund der Kampfhandlungen gänzlich geschlossen. Das ist natürlich ein sehr großes Problem.
Wie kann Caritas trotz alledem helfen?
Kuebart: Unser großer Vorteil ist, dass wir mit verschiedenen erfahrenen Partnerorganisationen zusammenarbeiten, die schon lange im Norden Äthiopiens für uns tätig sind. Wir haben ein gutes Verhältnis, wir vertrauen uns. Die Partner haben seit Beginn des Konflikts Lebensmittel an die Menschen verteilt, sind mit Wassertanks in abgelegene Gebiete gefahren oder haben Saatgut ausgegeben. Zum Teil gab es auch Bargeldhilfen, damit die Menschen sich auf den lokalen Märkten selbst eindecken konnten, solange das noch möglich war. Die Banken im Konfliktgebiet sind allerdings schon lange geschlossen, das erschwert die Hilfe unserer Partner zusätzlich. Sie tun, was sie können, um weiterhin Nothilfe zu leisten. Wir sind jederzeit bereit, unsere Hilfe in Tigray massiv hochzufahren, wenn es die Konfliktparteien zulassen. Außerdem helfen wir auch über die Region hinaus. Es gibt nämlich eine sehr große Zahl an Menschen, die seit Beginn der Kämpfe, innerhalb Tigrays aber auch in den umliegenden Regionen, aus ihren Dörfern geflohen sind. Die meisten von ihnen leben jetzt als Vertriebene im eigenen Land. Um sie kümmern wir uns. Wir versuchen zu helfen, wo und so viel es geht. Wir lassen die Menschen und unsere lokalen Partner keinesfalls im Stich!
Das Interview führten wir Ende Oktober 2022.