Uganda: Schutz für Kinder und Unterstützung für Geflüchtete
"Lasst uns erst einmal klarstellen, was Kindesmissbrauch ist", betont Eunice Lakaraber Latin. Sie steht auf einem Dorfplatz im Distrikt Acholi, ganz im Norden Ugandas. Neben ihr einige Caritas-Kolleginnen, vor ihr rund 50 Menschen, viele davon Männer, auf Plastikstühlen oder Holzbänken sitzend. "Kann mir jemand erklären, was Kindesmissbrauch genau ist?", fragt sie und schaut in die Runde.
Es ist eine Veranstaltung zum Thema geschlechterbasierte Gewalt, wie sie die Caritas Gulu, Partnerorganisation von Caritas international, regelmäßig organisiert. Mehr als 100 waren es allein im letzten Jahr. Die Mitarbeitenden möchten für das Thema Kindesmissbrauch sensibilisieren, über die dramatischen Folgen von sexueller Gewalt aufklären und die Rechtsgrundlage erläutern: Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen ist in Uganda verboten. Ein älterer Mann gibt zu bedenken, dass sich junge Mädchen oft nicht angemessen kleideten und ihre Mütter nichts dagegen täten. Die Blicke der Frauen sprechen Bände.
Fast alle haben Gewalt erfahren. Eine Umfrage des ugandischen Bureau of Statistics aus dem Jahr 2021* zeigt, dass Frauen und Mädchen im Distrikt Acholi massiver häuslicher und sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Fast 95 Prozent der über 15-Jährigen gaben an, schon mindestens einmal körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren zu haben. 64 Prozent wurden schon einmal innerhalb einer Partnerschaft vergewaltigt. Eines von drei Mädchen wurde vor dem 15. Lebensjahr zu ihrem ersten Geschlechtsverkehr gezwungen.
Die hohen Fallzahlen sind das dunkle Erbe des Bürgerkriegs, da ist sich Eunice Lakaraber Latim sicher. Sie arbeitet als Anwältin für die Caritas Gulu und vertritt vor allem Mädchen und Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind. "Zwanzig Jahre Bürgerkrieg haben die Bevölkerung zutiefst traumatisiert", sagt sie. Und die Folgen seien bis heute spürbar.
Eine Gesellschaft zerfällt
Von 1987 bis 2006 dauerten die Kämpfe zwischen der ugandischen Armee und der Rebellengruppe Lord’s Resistance Army (LRA). Die LRA-Kämpfer rund um ihren Anführer Joseph Kony gehörten zu den brutalsten auf dem afrikanischen Kontinent. Sie überfielen Dörfer, erschossen wahllos Menschen und brannten ihre Hütten nieder. Frauen mussten ihre Männer mit Macheten erschlagen, um das Leben ihrer Kinder zu retten. Menschen wurden verstümmelt, mehr als 100.000 starben. Schätzungen zufolge hat die LRA in Uganda im Laufe der Jahre mehr als 65.000 Kinder und Jugendliche entführt und sie zu Kindersoldaten ausgebildet. Auch brutale Vergewaltigungen gehörten zur Kriegsstrategie der LRA und waren für die Menschen in Norduganda Teil ihres Alltags. Nach Angaben der UNO mussten rund 1,8 Millionen Menschen in der Region vor den Überfällen in Sammellager flüchten - aber auch dort waren sie vor dem Terror der LRA kaum geschützt.
Im Norden Ugandas gibt es keine Familie, in der nicht jemand getötet, entführt, vergewaltigt oder zum Töten gezwungen wurde. "Junge Menschen, die heute heiraten und eine Familie gründen, sind in riesigen Vertriebenenlagern groß geworden, haben unsäglich viel Leid erlebt, über Jahre keine Schule besucht", erklärt Eunice Lakaraber Latim. Die Eltern, sofern sie überlebt hatten, hätten kaum die Möglichkeit zu einer guten Erziehung und für Gespräche gehabt. An Uganda zeige sich der kriegsbedingte Zerfall moralischer Normen.
Medizinische und rechtliche Hilfe für die Betroffenen
Das musste auch die heute zwanzigährige Alimo* erfahren. Im August 2022 war die junge Frau allein zuhause, ihre Eltern waren auf ein Fest eingeladen. Ein Junge aus der Nachbarschaft drang in ihre Hütte ein und vergewaltigte die junge Frau. Durch das Geschrei wurden Nachbarn aufmerksam und kamen ihr zu Hilfe, hielten den Täter fest.
Als Eunice Lakaraber Latim das junge Mädchen besucht, sitzt Alimo am Boden auf einer Matte und streicht sich ständig über ihre Arme.
Sie leidet nicht nur unter den Folgen ihrer Vergewaltigung, sondern auch unter der so genannten Nickkrankheit, die v.a. im Norden Ugandas auftritt. Die Krankheit verläuft oft in Anfällen, die ähnlich sind wie epileptische Attacken und verursacht starke körperliche Schmerzen. Es fällt Alimo zunehmend schwer, einen Gedanken zu fassen oder sich zu bewegen. Die Eltern sagen: Unsere Tochter kann nicht vergessen, was passiert ist. Sie hat kaum Appetit und viel Gewicht verloren.
Eunice Lakaraber Latim hat Alimo vor Gericht vertreten. Damit es in Fällen wie ihrem überhaupt zu einer Anklage und zum Prozess kommt, arbeiten Polizei und Caritas eng zusammen und informieren sich gegenseitig, wann immer sie von Fällen sexueller oder häuslicher Gewalt erfahren. In Veranstaltungen klären sie Kinder und Frauen über ihre Rechte auf und informieren, wohin sie sich im Notfall wenden können. In einigen Polizeistationen gibt es mittlerweile Übernachtungsräume, wo Frauen und Kinder Schutz finden, bis sich die Lage geklärt hat.
* Nachname wird aus Schutzgründen nicht genannt.
Wer zahlen kann, kommt oft davon
Norduganda ist ein marginalisierter Landstrich, weit entfernt und vernachlässigt von der Politik in der Hauptstadt Kampala. Die Justiz ist schwach, es herrscht Korruption: "Gerechtigkeit muss man sich in Norduganda leisten können. Manchmal müssen die Familien der Opfer für das Benzin aufkommen, das es braucht, um einen Vergewaltiger in das Gefängnis zu fahren. Oder sie müssen das Essen stellen, während er in U-Haft ist. Aber wenn wir hier auf die Gesellschaft schauen, ist Armut stark verbreitet. Gerechtigkeit ist also eine riesige Herausforderung", beschreibt Eunice Lakaraber Latim die Lage. "Wenn Menschen Geld haben, kommen sie mit ihren Verbrechen davon."
Eunice Lakaraber Latin will das ändern. "Ich kämpfe dafür, dass sich die Täter vor Gericht verantworten müssen und sie bestraft werden", bekräftigt sie. Und wenn die Betroffenen die anwaltlichen Kosten nicht selbst tragen können, bekommen sie diese von der Caritas gestellt. "Als wir hörten, dass wir juristische Unterstützung durch die Caritas erhalten können, waren wir sehr dankbar. Wir wurden gut beraten und vor Gericht vertreten, und der junge Mann sitzt nun im Gefängnis für das, was er getan hat", erzählen Alimos Eltern.
Die Genugtuung darüber ist ihnen anzumerken - auch, wenn sie sich weiterhin große Sorgen um ihre Tochter machen. Eine Vergewaltigung ist auch immer ein medizinischer Notfall. Mitarbeitende der Caritas Gulu übernehmen neben der rechtlichen Beratung auch den Transport in das Krankenhaus, stehen den Frauen und Mädchen bei den ärztlichen Untersuchungen zur Seite und bezahlen die Rechnungen. Sie begleiten die Betroffenen psychosozial und versuchen sie so gut wie möglich aufzufangen.
Steter Tropfen höhlt den Stein
Es ist der konsequenten politischen Lobby-Arbeit der Caritas Gulu zu verdanken, dass im Distrikt Pader mittlerweile ein Oberrichter seinen festen Amtssitz hat, der sich den vielen Fällen von geschlechterbasierter Gewalt und Kindesmissbrauch annehmen kann. Allein in den vergangenen drei Monaten wurden mehr Fälle verhandelt als im gesamten Jahr davor. Caritas berät außerdem die zuständigen Behörden bei der Ausarbeitung von Rechtsverordnungen und initiiert groß angelegte Medienkampagnen, die das Thema auch in das öffentliche Bewusstsein tragen sollen.
Dieses wachsende Bewusstsein wird zusätzlich gefördert durch zahlreiche Veranstaltungen, in denen über Kinderrechte aufgeklärt wird und über die schrecklichen Folgen von Frühehen und Teenager-Schwangerschaften. Die Caritas-Kolleg_innen informieren über gewaltfreie Erziehungsmethoden und sprechen mit Paaren darüber, wie man in Beziehungen gemeinsam und auf Augenhöhe Entscheidungen fällt. "Viele junge Menschen wissen heute nicht, wie eine gute Partnerschaft, eine funktionierende Familie eigentlich aussieht. Oder wie ein harmonisches und friedvolles Zusammenleben in der Gemeinschaft gelingen kann. Sie haben das schlichtweg nicht erlebt. Schritt für Schritt versuchen wir das in Workshops und Erziehungsberatungen zu vermitteln", erläutert Eunice Lakaraber Latim. Sie hegt die Hoffnung, dass aus dieser Arbeit langsam eine Gesellschaft erwächst, die den langen Schatten der Vergangenheit abstreifen kann.