Ein Land im Ausnahmezustand
Ein Interview mit Julia Renck, die seit rund zwei Jahren als Fachkraft für Caritas international vor Ort ist.
Wie geht es den Menschen - ein Jahr nach der verheerenden Explosion?
Julia Renck: Die Explosion und ihre Folgen sind im Libanon noch sehr präsent. Viele Menschen sind noch immer traumatisiert und gerade die damals stark zerstörten Gebäude liegen weiterhin in Trümmern. Bislang wurde niemand vor Gericht gestellt, niemand zur Verantwortung gezogen. Das macht die Menschen unglaublich wütend. Die Familien der Opfer haben weder Aufklärung erfahren noch eine Entschuldigung gehört. Ganz im Gegenteil: Die Proteste im Land wurden sogar niedergeschlagen. Unterstützung haben die Betroffenen vor allem von NGOs und ihren Landsleuten erfahren: Sogar von der Bekaa-Ebene, ganz im Osten des Landes, kamen Freiwillige, um nach der Explosion zu helfen.
Waren Sie selbst von der Katastrophe betroffen?
RENCK: Ich war glücklicherweise im Urlaub. Aber als ich fünf Tage nach der Explosion in meine Wohnung zurückgekehrt bin, war vieles von der Druckwelle zerstört: Die meisten Fenster waren geborsten und auch die Türen waren kaputt. Die folgenden Wochen fühlten sich seltsam an: Während ich auf der einen Seite die Nothilfen für die Betroffenen in Beirut mitorganisierte, war ich auf der anderen Seite selbst betroffen und musste mich um das Reparieren meiner Wohnung kümmern.
Worauf hatte sich die Caritas unmittelbar nach der Katastrophe konzentriert?
RENCK: Das Gesundheitspersonal der Caritas Libanon hat sich um die Wundversorgung der Verletzten gekümmert, Freiwillige haben Nahrungsmittel verteilt und geholfen Wohnungen und Straßen aufzuräumen. Später haben wir auch Bargeld-Verteilungen organisiert und Reparaturen an den beschädigten Häusern finanziert wie etwa das Einsetzen neuer Fenster und Türen.
Wie hat sich die Situation im Land seither verändert?
RENCK: Die Lage hat sich dramatisch verschlechtert. Laut Weltbank steckt der Libanon in einer der größten Wirtschaftskrisen der modernen Geschichte. Menschen, die noch im August letzten Jahres für die Betroffenen der Explosion spenden konnten, leben jetzt selbst am Existenzminimum. Das libanesische Pfund hat 90 Prozent seines Wertes eingebüßt. 1,5 Millionen Menschen sind von humanitärer Hilfe abhängig, rund ein Viertel der Bevölkerung. Besonders schwierig ist die Lage für die rund eineinhalb Million syrischen Geflüchteten und auch Palästinenser_innen im Land.
Wie äußert sich das konkret im Alltag?
RENCK: Die Hyperinflation treibt die Nahrungsmittelpreise in die Höhe, so dass die Familien mit immer weniger Essen zurechtkommen müssen. Es gibt kaum Treibstoff im Land, an den Tankstellen bilden sich kilometerlange Schlange. Die Stromversorgung ist unzuverlässig, in manchen Stadtteilen gibt es nur an zwei Stunden pro Tag Strom. Das ist auch eine enorme Belastung für die Krankenhäuser, die ohnehin unter der Corona-Pandemie ächzen. Die Wasserversorgung ist ebenfalls gefährdet, weil auch die Pumpen Strom benötigen. Die Banken zahlen Löhne teilweise nicht mehr aus, weil ihnen selbst Einlagen fehlen.
Was tut die libanesische Regierung?
RENCK: Nach der Explosion im August 2020 sind der Premierminister und das Kabinett zurückgetreten. Seitdem gab es lediglich eine Übergangsregierung, die allerdings nicht mit internationalen Organisationen verhandeln darf. Ende Juli wurde der Milliardär Nadschib Mikati damit beauftragt eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Allerdings sieht er sich selbst schweren Korruptionsvorwürfen ausgesetzt.
Was kann die Caritas in dieser Situation noch leisten?
RENCK: Wir haben einen klaren Fokus auf die Gesundheitsversorgung. An insgesamt zehn Standorten bieten wir - in enger Kooperation mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - Basisgesundheitsversorgung sowie fachärztliche Behandlungen an. Das wird zunehmend zur Herausforderung, einerseits aufgrund der schlechten Stromversorgung, aber auch, weil Medikamente im Land fehlen. Für Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene, die durch die Explosion traumatisiert wurden oder allgemein psychisch unter der aussichtslosen Lage leiden, leisten wir weiterhin psychologische Hilfe.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
4. August 2021