Armut und Behinderung verstärken sich oft gegenseitig. Wer arm ist, hat häufig keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, lebt unter schlechten hygienischen Bedingungen und kann sich keine ausgewogene Ernährung leisten. Das erhöht das Risiko, dass eine Behinderung überhaupt erst entsteht oder sich verstärkt. Menschen mit Behinderung bleiben zudem oft benachteiligt – Kinder mit Behinderung gehen seltener zur Schule und machen seltener einen Abschluss. Auch auf dem Arbeitsmarkt sind Menschen mit Behinderung stark unterrepräsentiert. Hinzu kommen oft hohe Kosten für Therapien und Hilfsmittel, die die finanzielle Belastung noch verschärfen.

Wusstest du?
Nur vier Prozent aller Behinderungen bestehen von Geburt an. Die meisten Menschen werden erst im Laufe ihres Lebens durch äußere Einflüsse körperlich oder geistig eingeschränkt.

Wir setzen auf Gemeindebasierte inklusive Entwicklung – was bedeutet das?
Die sogenannte Gemeindebasierte inklusive Entwicklung, die Caritas international zusammen mit seinen weltweiten Partnern fördert, hat das Ziel, diesen Teufelskreis aus Armut und Behinderung zu durchbrechen. Vereinfacht gesagt, geht es bei diesem Ansatz darum, dass wir Menschen mit Behinderung unterstützen, damit sie überall gleichberechtigt teilhaben können. Oder anders formuliert: um Inklusion zu erreichen. Das betrifft alle Lebensbereiche: zum Beispiel den Schulalltag, den Arbeitsmarkt, Freizeitangebote oder auch die Möglichkeit, bei politischen Entscheidungen mitzuwirken.
Klingt ambitioniert? Ist es auch. Aber in unseren Projekten gibt es viele positive Beispiele, die beweisen, dass es möglich ist, inklusive Entwicklung in Regionen zu verankern, in denen Menschen mit Behinderung vorher strukturell benachteiligt wurden.
Gemeindebasiert bedeutet in diesem Zusammenhang, den Menschen direkt vor Ort, in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld, zu helfen. Das vermittelte Wissen – zum Beispiel über die verschiedenen Arten von Behinderung, über medizinische Behandlungsmöglichkeiten, Physiotherapie oder die Herstellung von Hilfsmitteln – wird an die Betroffenen selbst und an ihre Familien und Dorfgemeinschaften weitergegeben. Außerdem werden lokale Organisationen in die Arbeit eng mit eingebunden.

Wusstest du?
Das Verständnis von Behinderung hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Behinderung wurde früher mehr als ein individuelles Defizit betrachtet, das man ‚heilen‘ muss. Heute versteht man Behinderung als das Ergebnis eines Zusammenspiels zwischen individuellen Beeinträchtigungen und den Barrieren, die es in der Umwelt und in der Gesellschaft gibt. Es sind die Barrieren verschiedenster Art, die aus einer Beeinträchtigung eine Behinderung machen.

Inklusion in Aktion: Ganzheitliche Unterstützung für Kinder mit Behinderung in Kambodscha
Noch stärker als in vielen anderen Kulturen auch, fehlt in Kambodscha das Bewusstsein, dass es normal ist, verschieden zu sein. Im Centre for Child and Adolescent Mental Health finden Familien mit geistig behinderten Kindern medizinische Hilfe, persönliche Beratung und individuell angepasste Therapien - wie hier im Kunst-Zentrum.Foto: Bente Stachowske / Caritas international
Unser Ansatz und unsere Mission in den Projekten ist es, all die Barrieren anzugehen, die Erwachsene oder Menschen mit Behinderung daran hindern, gleichberechtigt am Leben teilzuhaben. Unser Partner CCAMH, das Centre for Child and Adolescent Mental Health der Caritas Kambodscha, arbeitet beispielsweise schon seit fast 30 Jahren nach dem Konzept der Gemeindebasierten inklusiven Entwicklung und Rehabilitation. Ihr Zentrum nahe der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh ist dabei der Dreh- und Angelpunkt.
Von dort aus fahren Teams in ländliche Gebiete, bieten Sprechstunden an, führen Screenings durch und erstellen für Kinder mit Auffälligkeiten individuelle Hilfepläne. Die Eltern bekommen Anleitungen, wie sie ihre Kinder zuhause besser unterstützen können, und werden regelmäßig geschult. Außerdem bildet das Team Ärzte und Fachkräfte weiter, damit das Wissen breiter gestreut wird. Gleichzeitig machen sie Öffentlichkeitsarbeit, klären über verschiedene Behinderungen auf und schulen Lehrkräfte. Und sie bleiben in engem Austausch mit staatlichen Stellen, um mehr Mittel, mehr Personal und bessere Ausbildungsmöglichkeiten für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung durchzusetzen.
Bei der Politik Gehör verschaffen
Grundlage hierfür ist die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie verpflichtet die Unterzeichnerstaaten (auch Kambodscha gehört dazu) bestimmte Maßnahmen zur Inklusion umzusetzen. So garantiert beispielsweise Artikel 24 das Recht auf den Besuch einer Regelschule, Artikel 25 das Recht auf eine gleichwertige Gesundheitsversorgung, Artikel 26 fordert die Ausbildung von Fachkräften im Bereich Rehabilitation.
Doch nicht alle Staaten halten sich an ihre Verpflichtungen. Deshalb ist es Teil der Arbeit unserer Partner, die Regierungen immer wieder daran zu erinnern. In El Salvador unterstützen wir zum Beispiel Los Angelitos, eine Elterninitiative, die sich für die Rechte ihrer Kinder mit Behinderung stark macht. In El Salvador wird vieles zentral geregelt – ob Busse barrierefrei sind, entscheidet zum Beispiel das Verkehrsministerium, nicht die lokalen Busunternehmen. Deshalb nutzen die Eltern jede Möglichkeit zur politischen Mitsprache und machen mit Demonstrationen oder Sit-Ins auf Missstände aufmerksam.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil unserer Arbeit: Inklusion in der Katastrophenhilfe
Bei dem Tsunami in Japan 2011 war die Sterblichkeitsrate bei Menschen mit Behinderung doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung. Die Gründe dafür sind vielfältig: Menschen mit einer Hörbehinderung bemerken akustische Warnungen oft zu spät. Menschen mit intellektuellen Behinderungen können in einer chaotischen Situation die Orientierung verlieren, weil sie keine für sie verständlichen Informationen bekommen, und sehbehinderte Menschen haben Schwierigkeiten, Evakuierungspunkte zu erreichen, weil ihnen bekannte Orientierungshilfen fehlen. All das zeigt, wie wichtig es ist, Inklusion auch in der Katastrophenhilfe mitzudenken.
Eine große Chance für inklusive Nothilfe liegt daher vor allem in der Phase vor Katastrophen. Unsere Partner in Indien, Indonesien, Guatemala und El Salvador unterstützen Menschen darin, sich besser auf Naturkatastrophen vorzubereiten. Dabei werden alle Bewohner_innen einbezogen, ausdrücklich auch Menschen mit Behinderung. Gemeinsam erstellen sie Risikopläne, richten einfache Frühwarnsysteme ein, bieten Erste-Hilfe-Kurse an und üben Evakuierungen. In überschwemmungsgefährdeten Regionen lernen die Familien zum Beispiel, wie sie Rettungshilfen wie Schwimmwesten, Flöße oder einfache Boote selbst bauen können.
Subhan (im Rollstuhl) hat seit seiner Geburt deformierte Hände und ist durch einen Unfall von der Hüfte abwärts gelähmt. Nach dem Tsunami in Indonesien bauen die Dorfbewohner mit ihm gemeinsam sein Haus wieder auf.Foto: Bente Stachowske / Caritas international
Den Wiederaufbau nach Katastrophen als Chance begreifen
Nach einer Katastrophe bietet der Wiederaufbau trotz aller Zerstörung auch Chancen, Dinge besser zu gestalten. Wo vorher Treppen unüberwindbare Hindernisse für Rollstuhlfahrer_innen waren, können nun Rampen gebaut werden. Sanitäreinrichtungen können barrierefrei gestaltet, Bordsteine abgeflacht und öffentliche Gebäude und Häuser mit breiten Zugängen errichtet werden. Entscheidend ist dabei, dass Menschen mit Behinderung und ihre Selbstvertretungsorganisationen von Anfang an in die Planung einbezogen werden und mitentscheiden. Denn sie wissen am besten, was gebraucht wird.