„Kooperatives Handeln und eingeübte Abläufe können Leben retten!“
Warum ist die soziale Interaktion aller Beteiligten zentral?
Darüber sprachen wir mit Fidèle Nicolas, Joana Lajoie und Jean Rénel Baptiste.
Welche Gefahren gehen für die Bevölkerung in Haiti von einem Hurrikan aus? Für wen sind die Risiken besonders hoch?
Jean Rénel Baptiste: Wird im Radio angekündigt, dass ein Wirbelsturm im Anzug ist, so legt sich oft schon Stunden vor den ersten Böen ein Bangen über die betroffene Region: Wird das Dach auf dem Haus halten? Wie hoch werden die Wellen schlagen? Wie viel Wasser wird die Wohnviertel, die Felder, Straßen und Brücken fluten? Wird der Strommast dem Orkan standhalten? Viele Menschen verrammeln notdürftig ihre Häuser oder suchen Schutz in einer Kirche. Viele wissen nicht, wie sie sich schützen oder Risiken vermeiden können.
Joana Lajoie: Tatsächlich ist der Verlust des Hauses und des Hab und Gutes für die Menschen ein herber Schlag, auch für diejenigen, die keine Todesopfer unter ihren Verwandten oder Nachbarn zu beklagen haben. Auch darüber hinaus stellen sich viele Gefahren, die von einem Wirbelsturm ausgehen, erst unmittelbar nach seinem Durchzug ein. Zum Beispiel Erdrutsche sowie Überschwemmung von städtischen Gebieten - gerade dort, wo die Bauweise weniger stabil ist, wo prekärer Wohnraum entstand.
Fidèle Nicolas: Der Sturm, oft einhergehend mit starkem Niederschlag, führt oft dazu, dass Verbindungsstraßen unter Schlammlawinen begraben werden.Schäden an der Infrastruktur führen so zur Isolation ganzer Regionen. Mit der Isolation drohen weitere Gefahren. Nahrungsmittel werden gerade in dicht besiedelten Gebieten schnell knapp. Besonders arme Teile der Bevölkerung können sich nicht mehr ausreichend ernähren.
Joana Lajoie: Genau das war nach dem Hurrikan Matthew 2016 der Fall. Vor allem sauberes Trinkwasser wird knapp, etwa, wenn Wasserrückhaltebecken nicht mehr funktionieren, weil Sedimente sie verstopfen, oder wenn die Abwassersysteme überlaufen. Damit steigt die Gefahr, dass sich Epidemien ausbreiten, Typhus etwa und Cholera.
Wie beeinträchtigen die Schäden an der Infrastruktur die Hilfe für die Wirbelsturmopfer?
Jean Rénel Baptiste: Die jüngste Erfahrung während des Hurrikans Matthew im Oktober 2016 im Regierungsbezirk Nippes hat gezeigt: Selbst, wenn mehr Hilfe verfügbar gewesen wäre, hätten die Hilfskräfte die Opfer aufgrund der schweren Straßenschäden und zerstörten Brücken nicht erreichen können.
Joana Lajoie: Auch die Betreuung von Kranken war beeinträchtigt, da 14 Gesundheitsstationen beschädigt wurden - eine lebensbedrohliche Lage für zahlreiche Patientinnen und Patienten. In Nippes kamen durch den Hurrikane 42 Menschen zu Tode, Hunderte wurden verwundet. Wasser und Nahrungsmittel waren binnen Tagen knapp. Massive Schäden an über 200 der 850 Schulenin Nippes verzögerten die Wiederaufnahme des Unterrichtes, teilweise über Monate. In nicht sturmbetroffenen Siedlungen wurden Schulgebäude als temporäre Unterkünfte genutzt, denn irgendwo mussten die Menschen der insgesamt 22.624 zerstörten Häuser im Department Nippes bleiben. Und sie blieben sehr lange.
Zudem wurden Felder verwüstet, vor allem Bananenstauden. Und Saatgut ging verloren. Kochbananen stellen ein wichtiges Grundnahrungsmittel für die Menschen in Haiti dar und es dauerte Monate, bis die neu gepflanzten Stauden wieder Früchte trugen.
Fidèle Nicolas: Die Stromausfälle während und nach Hurrikan Matthew verhinderten, dass die Bevölkerung über den Katastrophenschutz informiert werden konnte. Oft erreichten die lebensrettenden Hinweise sie nicht, da die batteriebetriebenen Radios und Telefone nicht geladen werden konnten. Für den Schutz der Bevölkerung sind Kommunikationssysteme enorm wichtig, Radio, TV und Telefonverbindungen. Brechen sie zusammen, so werden ganze Hilfsteams lahmgelegt und die Isolation erzeugt zusätzlich Ängste.
Vielerorts war die Kontaktaufnahme mit den lokalen Katastrophenschutzräten nicht möglich. Diese Ausschüsse, deren Absprachen wir nun begleiten und deren Arbeit wir stärken, planen und organisieren im Ernstfall, wie die betroffenen Menschen nun am besten begleitet und unterstützt und wie Folgeschäden vermieden oder Gefahren bewältigt werden können.
Was wird derzeit getan, um die Schutz- und Präventionsstrategien zu verbessern?
Jean Rénel Baptiste: Um das Dorf in die Lage zu versetzen, sich aktiv zu schützen, führt die Caritas in Nippes eine Sensibilisierung durch. Wir gründen lokale Katastrophenschutzkomitees erarbeiten spezifische Pläne und beziehen lokale Autoritären und die Bevölkerung aktiv ein. Auch werden vorsorglich besonders prekäre Gebiete evakuiert bzw. die Evakuierungspläne verbessert. Und es wird auf die Zusammenarbeit und Solidarität innerhalb der Kommune hingewirkt - nachbarschaftliche Hilfe ist Teil des Konzeptes und ergänzt den staatlichen Zivilschutz.
Neu ist der Bau von Häusern, die Wirbelstürmen besser standhalten und entsprechende bauliche Standards vorweisen. Auch werden das Netz von Telefonen und die Reichweite der Radioprogramme verbessert sowie Frühwarnsysteme etabliert, um die Menschen über Katastrophen wie sich ankündigende Wirbelstürme zeitig zu informieren.
Jean Rénel Baptiste: Wenn Menschen von einem Hurrikan erfahren, hören sie ständig Radio, um sich über Sicherheitshinweise zu informieren. Bewohner und Bewohnerinnen von Hochrisikogebieten und unsicheren Wohnlagen suchen vorübergehend Schutz bei Nachbarn oder in Schutzgebäuden.
Joana Lajoie: Im Vorfeld ist es wichtig, genau zu wissen, welche Informationen die Bevölkerung braucht und welche Hinweise dazu beitragen, dass die Menschen selber Gefahren ausweichen können. Es gibt einen Sektorenplan, der genau festlegt, wie Notfallzentren eingerichtet werden und wie die zuständigen Stellen auf allen Ebenen mobilisiert werden, vom lokalen Schutzkomitee über das Ministerium bis zur internationalen Hilfsorganisation. Auf lokaler und kommunaler Ebene trainieren wir Komitees, also Katastrophenschutzräte. Sie geben dann die Informationen weiter und wissen, wo sich die schwächsten Personen befinden. Entscheidend ist zudem, dass sich alle humanitären Organisationen mit dem Katastrophenschutz abstimmen.
Fidèle Nicolas: Der Plan definiert Aktionen zur Gefahrenabwehr und Strategien zum Schutz - er gibt Leitlinien vor. Die lokale und kommunale Verwaltung sorgt für die Koordination. Internationale Akteure unterstützen die lokalen Kräfte und kommunalen Teams. Die Caritas Nippes bindet ihre Aktivitäten in diese Katastrophenschutzpläne ein. Auch andere Akteure stimmen ihre Hilfe ab, um mögliche Überschneidungen zu vermeiden.
Was kann bei der Katastrophenvorsorge mittelfristig noch verbessert werden?
Fidèle Nicolas: Wie leistungsfähig der Zivilschutz ist, hängt davon ab, wie gut die einzelnen Aktivitäten und Rollen zwischen den beteiligten Akteuren wie dem Staat, den Kommunen und Dörfern sowie externen Hilfskräften abgestimmt werden. Hier muss sich noch einiges verbessern und vor allem: Es braucht Übung, sozusagen eine Routine. Katastrophenvorsorge ist ein laufender Prozess.
Joana Lajoie: Wir sensibilisieren für einen Familien-Notfallplan für jeden einzelnen Haushalt. Lokale Mandatsträger sollten laufend geschult werden. Wenn eine evakuierte Familie ihre Medikamentenliste und die Dokumente dabeihat, kann schneller und gezielter geholfen werden. Insofern ist der Katastrophenschutz ein sozialer Prozess. Bewusstsein über die Risiken und über das eigene Verhalten, kooperatives Handeln und eingeübte Abläufe sind die Elemente, die am Ende Leben retten.
Welche konkreten Strategien gibt es für die Anpassung an den Klimawandel? Und wo greifen Umweltbildung und Katastrophenschutz ineinander?
Jean Rénel Baptiste: Um sich an den Klimawandel und seine Folgen anzupassen, ist es wichtig, Workshops zu organisieren, in denen über dieses Thema nachgedacht und das Bewusstsein für sich ändernde Verhältnisse geschärft wird. In kleineren Schluchten werden Steinwälle angelegt, bis zu 50 Wälle im Abstand von rund zehn Metern halten die Erosion auf. Das Wasser stürzt nicht mehr so schnell in die Täler. Auch die Anbaumethoden werden überdacht.
Wir müssen gemeinsam adaptive Verhaltensweisen erarbeiten und dabei verschiedene Bereiche des nationalen Lebens integrieren. Umweltbildung, Abfallwirtschaft, Experimente mit schnellreifenden Sorten und solchen, die von kurzen Dürreperioden profitieren können. Zudem der Einsatz von dürreresistenten Sorten, darauf wollen wir uns konzentrieren. Der Schutz des Ökosystems, der Bau von Stauseen für die Regenwassernutzung sind weitere wichtige Elemente.
Fidèle Nicolas ist seit 13 Jahren Koordinator für den staatlichen Katastrophenschutz in Nippes. Er hat mehrere große Katastrophen miterlebt: Das Erdbeben vom 10. Januar 2010, die vier Wirbelstürme im Jahre 2008 (Fike, Gustave, Hanna, Ike) und Hurrikan Matthew 2016. Joana Lajoie ist Agraringenieurin und Leiterin des Arbeitsbereichs Katastrophenvorsorge bei Caritas Nippes. Jean Rénel Pierre Jean Baptiste ist Bauingenieur und Rechtsanwalt und koordiniert die Programme der Caritas Nippes.
Das Interview führte Martina Backes, September 2019