Krise im Libanon
Die wirtschaftliche Lage im Libanon verschlechtert sich seit 2009 stetig. Die Staatsverschuldung beläuft sich mittlerweile auf 170 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Das Libanesische Pfund hat massiv an Wert verloren, die Preise für Nahrungsmittel sind infolgedessen nach oben geschnellt. Die Schwächsten der Gesellschaft bekommen das besonders zu spüren. Schon vor der Explosions-Katastrophe lebten 1,3 Millionen Libanes*innen in Armut.
Der Staat ist bankrott
Anfang Februar erkläre die Regierung unter Ex-Premier Hassan Diab - zum ersten Mal in der Geschichte des Libanon - Schulden in Höhe von 1,2 Milliarden US Dollar an ausländische Geber nicht zurückzahlen zu können. Der Staat ist bankrott und verschuldet, nicht zuletzt aufgrund von Korruption und Klientelismus in Regierungskreisen. Die Explosionsschäden, die auf etwa 15 Milliarden Dollar geschätzt werden, kann der Libanon alleine nicht bewältigen. Die internationale Staatengemeinschaft hat Not- und Wiederaufbauhilfe in Höhe von rund 250 Millionen Euro versprochen, darunter 20 Millionen Euro aus Deutschland. Allerdings befürchten die internationalen Geldgeber, wie auch viele Libanesinnen und Libanesen, dass Teile des Geldes der im Land vorherrschenden Korruption zum Opfer fallen könnten und fordern tiefgreifende Reformen.
Zwei Männer laufen durch eine zerstörte Straße unmittelbar nach der Explosion vom vierten August. Die Katastrophe trifft auf ein Land, dass bereits zuvor mit zahlreichen Problemen zu kämpfen hatte.Foto: Caritas Libanon
Wut und Proteste gegen korrupte Politiker
Neben den wirtschaftlichen und finanziellen Missständen besteht seit Ende Oktober 2019 eine massive politische Krise im Libanon. Die Verzweiflung über die schlechte wirtschaftliche Lage im Land, die eigene Not und die Wut über die politische Elite treiben die Libanes*innen auf die Straße. Infolge der Explosion flammten die Proteste wieder auf; kurzzeitig wurde sogar das Außenministerium von Demonstrierenden gestürmt und besetzt. Medien sprachen von 200 bis 700 Verletzten - an nur einem Tag. Die andauernden, landesweiten und oft gewalttätigen Proteste zwangen schon Ex-Ministerpräsident Saad al-Hariri vergangenes Jahr zum Rücktritt. Nun gab auch Hassan Diab dem Druck der Masse nach, seine Regierung hielt sich gerade mal sechs Monate im Amt. Wenige Tage nach der Explosion, am 10. August, trat sie zurück.
Seit Ende August steht nun fest: der bisherige libanesische Botschafter in Deutschland, Mustapha Adib, übernimmt die Regierungsgeschäfte in Beirut. Er wurde mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Adib ist seit 2013 Botschafter in Berlin, hatte bisher aber keine politischen Spitzenämter inne. Der libanesischen Öffentlichkeit ist der promovierte Rechts- und Politikwissenschaftler eher unbekannt. Für die verschiedenen Parteien scheint Adib jedoch ein verträglicher Kompromiss. Sogar die mächtige Schiiten-Partei Hisbollah stellte sich hinter Adibs Nominierung zum Premierminister. Gut zu wissen: Im Libanon muss der Präsident immer ein Christ sein, der Premier ein Sunnit und der Parlamentschef ein Schiit.
Die Sicherheitslage in Beirut ist weiterhin volatil. Proteste flammen immer wieder auf. Die Situation ist vor allem für die Geschädigten der Explosion, die immer noch ohne Türen, Fenster oder überhaupt einem Dach über dem Kopf ausharren müssen, gefährlich und psychisch stark belastend. Neben wirtschaftlicher, finanzieller und politischer Krise leiden die Menschen im Libanon außerdem an der Corona-Pandemie.
Zahl der Corona-Infizierten steigt
Durch das Chaos der Explosion und infolge der Aufräumarbeiten am und um das Hafengelände sind die Zahlen der Corona-Infizierten im Libanon exponentiell an gestiegen. Während viele Länder in Europa die erste Corona Welle bereits überwunden haben, wütet das Virus im Libanon - so stark wie nie zuvor. Mitte August wurden erneut strenge Ausgangssperren verhängt, Versammlungsverbote erlassen. Die Hilfe und Aufräumarbeiten im Zusammenhang mit der Explosion waren davon allerdings offiziell ausgenommen.
Caritas international arbeitet seit vielen Jahren eng mit ihrer Partnerorganisation, der Caritas Libanon, zusammen.Philipp Spalek / Caritas
"Der Lockdown in Beirut ist wesentlich stärker, als wir es hier aus Deutschland kennen. Und das behindert natürlich auch die humanitäre Hilfe", sagt der Leiter des Referats Naher Osten bei Caritas international, Christoph-Klitsch-Ott. Er sitzt dem Krisenstab von Caritas international für die Explosionskatastrophe in Beirut vor, koordiniert aber auch viele andere humanitäre Projekte in der Region. "Helfen ist grundsätzlich schwieriger geworden, weil man Corona immer mitdenken muss", sagt Klitsch-Ott. Große Versammlungen zum Verteilen von Nahrungsmitteln oder Medizin, zum Beispiel, könne man nicht mehr wie gehabt durchführen. "Das geht jetzt nur eins zu eins oder in kleinen Gruppen."
Corona erschwert auch die Humanitäre Hilfe
Vor allem aber langfristige, humanitäre Hilfsprojekte, wie beispielsweise die Arbeit mit Geflüchteten, Berufsausbildungsprogramme, oder die Betreuung von Frauen und Kindern hätten unter der Pandemie gelitten. Materielle Sofort- und Nothilfen allerdings, wie sie jetzt in Beirut benötigt werden, könne man trotz Corona und mit Schutzkonzepten voll gewährleisten, versichert Klitsch-Ott im Interview mit hr-iNFO.
Die schnelle Versorgung mit medizinischen Mitteln, Nahrung oder der Wiederaufbau steht für die Hilfe in Beirut gerade an erster Stelle. Allerdings schwelen auchKrisen hinter der Krise.
Krisen hinter der Krise nicht vergessen!
Auch neun Jahre nach Beginn des Syrienkriegs herrscht im Libanon weiterhin eine der schlimmsten humanitären Krisen seit Ende des libanesischen Bürgerkriegs. Schätzungen der Regierung zufolge leben 1,5 Mio. syrische Geflüchtete und 28.800 palästinensische Geflüchtete aus Syrien (PRS) in dem kleinen Land. Hinzu kommen circa 180.000 Geflüchtete aus Palästina. Knapp jeder Vierte (25 Prozent) der rund 6,8 Millionen Einwohner des Libanon ist damit ein Geflüchteter.
Viele Geflohene aus Syrien leben noch immer in improvisierten Flüchtlingslagern.Foto: Caritas Libanon
Die Lage der in den Libanon Geflüchteten hat sich mit der Explosion weiter verschlechtert. Zu Beginn des Bürgerkriegs wurden Syrerinnen und Syrer von der libanesischen Bevölkerung größtenteils noch offen aufgenommen. Mit dem schleichenden wirtschaftlichen Niedergang des Landes haben sich die Ressentiments allerdings verstärkt. Das Verhältnis zwischen Einheimischen und Geflüchteten ist angespannt, die Lebensbedingungen der Geflüchteten sind schlecht. Ein Großteil lebt seit Jahren in informellen Zeltstädten. Da die Flüchtlingscamps im Libanon nur als Übergangslösung dienen sollten, mangelt es dort an dem Nötigsten wie Wasser, Strom oder Bildungsangebote für Kinder. Gerade jetzt, in Zeiten von wirtschaftlicher Not, politischem Umbruch und Corona, kann und wird der libanesische Staat die Geflüchteten nicht unterstützen - diese Aufgabe muss die internationale Gemeinschaft übernehmen!
Bei all dem Schock um die Explosionskatastrophe und ihre Folgen darf diese Gruppe aus besonders Schutzbedürftigen - zu der insbesondere geflüchtete Frauen und Kinder, aber auch illegale Hausangestellte oder Tagelöhner*innen des informellen Sektors gehören - nicht vergessen werden.
September 2020