Mobile Sozialhilfe für Straßenkinder in Sibirien
Vor einer Stunde noch schien Kojla ein ganz normaler Sechsjähriger. Er übte Purzelbaum, er versuchte einen Kopfstand und fiel um, er warf einen Plastikball gegen die Wand, er spielte. Er war eines von zwanzig Kindern, im Kinderklub "Sternbild", Novosibirsk, Sibirien.
Dann gibt es Essen. Kojla spricht nicht mehr, er stopft, er isst was zu haben ist. Heute: Kartoffelbrei und Weißkohl mit Fleischeinlage. Ein Löffel davon, dann ein Biss von dem Marmeladenbrot, dann wieder Kohl. Noch während er kaut, versteckt er das nächste Marmeladenbrot zwischen Teller und Arm. Kojla, der vielleicht so viel wiegt wie ein Sack Zement, isst wie ein Bauarbeiter. Auch nach einem halben Jahr im Kinderklub kann er noch immer nicht glauben, dass es später noch eine Mahlzeit gibt.
Kojla ist kein Einzelfall. Als vor zwei Jahren die ersten der heute 20 Kinderklubs in den Städten und Dörfern Westsibiriens eröffnet wurden und von Caritas international finanziert werden, stellten sich viele der Kinder nach dem Mittagessen gleich wieder vor den Speiseraum. Sie warteten auf das Abendessen.
Kojla und die rund 500 anderen Kinder, die regelmäßig die Kinderklubs besuchen, kommen allesamt aus Familien, die zu den Verlieren der russischen Gesellschaft gehören. Viele wachsen in Einzimmer-Wohnungen auf, in denen sechs bis acht Menschen aus drei Generationen leben. Sie müssen sich in den Wohnheimen nicht selten eine Toilette mit 18 anderen Familien teilen, also mit mindestens 100 anderen Menschen. Armut, häusliche Gewalt, Alkoholismus und Drogenkonsum der Eltern ist nicht selten Teil ihrer Normalität, die von Stress geprägt ist. Das dazu gehörende Krankheitsbild: chronisches Magengeschwür, ein für Kinder ungewöhnliches Leiden.
Neulich haben sie in einem der Kinderklubs Familie gespielt
Das Kind, das die Mutter spielte sagte: "Ich gehe jetzt einkaufen." Das Kind, das den Vater spielte fragte: "Gut. Was kaufst Du denn?" Die Mutter: "Brot und Bier." Der Vater: "Warum denn Brot?"
Acht Stunden, von 9 bis 18 Uhr, von Montag bis Samstag, haben die Kinderclubs geöffnet. Die Jüngsten, die kommen, sind sechs, die Ältesten 16. Macht maximal zehn Jahre in einem der Klubs. Zehn Jahre Zeit für die Erzieher, den Kindern Alternativen zu dem Leben ihrer Eltern aufzuzeigen. Gemeinsames Kochen, Essen, Einkaufen, medizinische Versorgung ist dabei nur die eine Seite des Erziehungskonzeptes. Die psychische und nicht zuletzt die seelische Entwicklung ist die andere.
Spielen im KinderklubSusanne Staets
Das fängt beim kleinen Einmaleins des Zusammenlebens an, wie etwa gemeinsam spielen, Sport treiben oder der Fähigkeit jemanden zuzuhören. Es geht weiter mit dem selbständigen Erledigen kleiner Aufgaben - wenn sie zum Beispiel dem Hausmeister beim Reparieren des Treppengeländers helfen. Dazu gehört auch, dass die Kinder lernen, ihne Hausaufgaben zu erledigen oder Computerkurse zu besuchen. Bei der psychologischen Betreuung geht es letztlich darum, den Kindern Selbstvertrauen zu vermitteln, sie zu befähigen eigene Entscheidungen zu treffen, die darüber hinausgehen, sich vor den Speiseraum zu stellen und auf die Essensausgabe zu warten. Die Mitarbeiter zeigen ihnen, dass es andere Lebensentwürfe als die ihrer Eltern gibt.
Die meisten der Erzieher und Psychologen, die in den Kinderklubs arbeiten, wissen wovon sie sprechen. Armut, vor allem soziale Armut, meist einhergehend mit Alkoholismus, ist in Russland ein Massenphänomen. "Mein Vater trinkt. Meine Mutter trinkt. Gestern haben sie sich wieder gegenseitig gewürgt", sind Sätze, die man von den Kindern zu hören bekommt.
Nach zwei Jahren arbeit im Kinderklub misst sich der Erfolg oder Misserfolg in der Entwicklung jedes einzelnen Kindes. Manche verschwinden einfach irgendwann, sind auch durch die regelmäßigen Hausbesuche der Erzieher nicht mehr erreichbar, andere bringen mittlerweile ihre kleinen Geschwister mit. Meistens sind es die Kinder selbst, die andere Kinder mitbringen. Oder, und das passiert in letzter Zeit häufiger, sie bleiben, selbst wenn sie die Altersgrenze von 16 Jahren überschritten haben. Anders gesagt: Sie gingen als Jugendliche und bleiben als ehrenamtliche Helfer.
August 2008