Dorfchef am Tschadsee: „Boko Haram hat unsere gesamte Lebensgrundlage zerschossen“
Ein Beitrag von Paul Darscheid
Mitarbeiter in der Öffentlichkeitsarbeit von Caritas international
09. Februar 2023 / Lesedauer: 4 Minuten
Ich sitze mit Abakoura Adam im Schatten unter einem Baum. Wenige Meter hinter uns liegt das Ufer des Tschadsees. Adam ist seit 18 Jahren Dorfchef von Tagal, einem kleinen Ort im Tschad, genauer gesagt in der Region Lac. Der 42-Jährige schildert mir die Ausgangssituation der Menschen in der Region - zuerst klingt alles sehr vielversprechend: Auf dem Tschadsee gibt es sehr viele Inseln, 52 davon sind Staatsgebiet des Tschad. Seit Generationen betrieben Tschader und Tschaderinnen, aber auch Menschen aus den Nachbarländern Kamerun, Nigeria und Niger, dort erfolgreich Landwirtschaft, Viehzucht und vor allem Fischfang, erzählt Adam.
Die Augen des Dorfchefs leuchten, als er von der Zeit vor Boko Haram berichtet. Sein Ort Tagal liegt direkt am Ufer des Tschadsees und war daher lange ein florierender Knotenpunkt. "Die Inseln bildeten das Zentrum unserer Region, unser Dorf stand in engem Austausch mit den Menschen dort. Die fünf größten Fischmärkte des Tschad lagen auf den Inseln. Die Menschen aus Tagal und vom gesamten Festland sind regelmäßig auf Booten dorthin gefahren, um Handel zu treiben und Lebensmittel einzukaufen."
Bis zu diesem Punkt ist die Stimme des Dorfchefs ruhig. Ich merke, dass ihm die lebendigen Erinnerungen an bessere Zeiten Kraft geben. Aber dann wird er plötzlich lauter, er wirkt aufgebracht. Adam erzählt: "Ende 2014, Anfang 2015 hat sich alles geändert. Damals kam der Terror von Boko Haram hierher. 2015 gab es mehrere Selbstmordanschläge in Baga Sola. Mit vielen Toten!"
Baga Sola ist eine Kleinstadt, nur wenige Autominuten von Adams Dorf entfernt. Bei den Terroranschlägen auf dem Markt und in einem Flüchtlingslager starben damals 38 Menschen. Doch die Auswirkungen gingen weit über die Kleinstadt hinaus. Der Dorfchef erklärt mir, dass die Landwirte, deren Felder auf den Inseln liegen, durch den Terror von Boko Haram dort nicht mehr arbeiten könnten. Die Inseln gehörten jetzt zur sogenannten "roten Zone". Das Militär hält sie besetzt und kämpft von dort aus gegen die Terroristen. Auch Fischfang und Viehzucht sind auf den Inseln nicht mehr möglich.
Abakoura Adam seufzt. "Es ist nichts mehr, wie es einmal war. Die Terroristen haben unsere gesamte Lebensgrundlage zerschossen. Die Inseln waren unsere Lebensader. Jetzt aber sind Austausch und Handel in der Region zusammengebrochen. Es gibt keine Märkte mehr auf den Inseln und die meisten Familien mussten hierher ans Festland flüchten, auch in unserem Dorf sind viele angekommen."
Die Zahl der Binnenvertriebenen ist in den letzten Jahren des Boko Haram Terrors allein in der Region Lac auf über 450.000 angestiegen; das sind 70% der Bevölkerung. Viele Menschen müssen jetzt auf dem Festland ihren Lebensunterhalt bestreiten und fernab ihrer Heimatorte um Schutz und Aufnahme bitten. Das macht Dorfchef Adam Kopfschmerzen, aber er betont, dass man trotzdem zusammenhalte. "Natürlich haben wir die Flüchtlinge bei uns aufgenommen, es sind ja unsere Brüder und Schwestern", sagt er.
Auch die Caritas hilft mit ihren Projekten, die sich sowohl an Geflüchtete als auch an Einheimische richten. Die Mitarbeitenden der Caritas Tschad unterstützten insbesondere mittelose Frauen. In der Ziegenzucht oder mit einem kleinen, von der Caritas subventionierten Lebensmittelgeschäft können sie sich ein neues Leben aufbauen. Ebenso arbeitet die Caritas Tschad mit Fischern zusammen, die nach ihrer Flucht von den Inseln neu anfangen müssen oder ihre altbekannten Fangregionen am Seeufer jetzt mit deutlich mehr Fischern teilen müssen. Interessierte Landwirte, die neben dem Terror auch unter klimawandelbedingten Trockenzeiten leiden, können außerdem an Caritas-Schulungen teilnehmen und bekommen Startkapital für eine angepasste Landwirtschaft am Ufer des Tschadsees. Die Landwirte lernen zum Beispiel, wie sie Biodünger aus Mist und Kompost herstellen oder klimaangepasstes Saatgut gewinnbringend und nachhaltig einsetzen. Zusätzlich sollen Aufforstungsprojekte die lokalen Auswirkungen des Klimawandels eindämmen und die Ausbreitung des Wüstensandes stoppen.
Mit all diesen Maßnahmen helfen Caritas-Mitarbeitende jenen, die von den Inseln nach Tagal und in die Umgebung flüchten mussten. Sie stärken aber auch die Resilienz der aufnehmenden Bevölkerung und tragen so dazu bei, dass die Menschen den Veränderungen durch Klimawandel und Terror etwas entgegensetzen können.
Auch Dorfchef Abakoura Adam ist sehr dankbar um die Hilfe der Caritas. In einer Zeit, in der in seinem Dorf Tagal alles ins Wanken gerät, gebe sie den Menschen Hoffnung und Halt, sagt er mir.
Wir sitzen immer noch unter dem Baum. Ich bin ich sprachlos. Unser Gespräch hat mich tief beeindruckt. Auch wenn die deutschen Medien vereinzelt vom Terror durch Boko Haram berichten, fühlt es sich für mich doch ganz anders an, so hautnah mit den Menschen vor Ort zu sprechen und geschildert zu bekommen, wie sich der Terror auf das Leben auswirkt. Ich bin beeindruckt, wie sich die Bewohner und Bewohnerinnen der Uferdörfer untereinander helfen, wie sie Flüchtlinge bei sich aufnehmen, obwohl sie selbst zu kämpfen haben, und wie die Caritas Tschad ihren Beitrag leistet, dass das Miteinander auch langfristig funktioniert. Ich freue mich sehr, Abakoura Adam getroffen zu haben.
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