Ein Beitrag von Kim Nicolai Kerkhof
Referent für den Südsudan bei Caritas international
17. Februar 2023 / Lesedauer: 3 Minuten
Es ist bitterkalt, über uns der tiefblaue Himmel und die Wintersonne, die jedoch kaum wärmt. Der über Nacht gefallene Schnee dämpft die Geräusche der Stadt in unserem Rücken. Vor uns ein Fahnenmeer in gelb und blau. Die Fahnen stecken in den vielen, teilweise erst wenige Tage alten Gräbern der im Kampf gefallenen Einwohnerinnen und Einwohnern der Stadt Lwiw. Vor einigen Gräbern stehen Angehörige und betrachten stumm das Bild ihrer Söhne, Schwestern oder Freunde. Mit behandschuhten Händen wischen sie Schneeflocken von den Holzkreuzen und Fotos auf den frischen Erdhügeln. Zwei Friedhofsmitarbeiter heben mit einfachen Schaufeln zwei neue Gräber aus. Am Nachmittag werden bereits die nächsten Beerdigungen stattfinden. Der seit nun einem Jahr in der gesamten Ukraine tobende Krieg – hier wird er für mich zum ersten Mal richtig spürbar.
Ich bin auf Dienstreise und besuche unsere Kolleginnen und Kollegen in Lwiw. Der erste Eindruck von der Stadt am Abend zuvor war ein anderer: Menschen beim Bummeln, Straßenkonzerte, gut gefüllte Restaurants und Bars, dazu die beeindruckenden Bauten und Plätze der Stadt. Auch wenn der Luftalarm mittlerweile zum Alltag gehört, von Raketeneinschlägen ist das Zentrum der Stadt bislang verschont geblieben. Doch wie so oft trügt der erste Eindruck. Am Friedhof wird mir bewusst, dass auch hier in Lwiw nichts mehr so ist wie früher.
Wir sind nur wenige Tage in der Stadt. Unser Programm ist straff und von den Kolleginnen und Kollegen aus Lwiw bestens organisiert. Vom Friedhof aus laufen wir zu einem Kindergarten, der von Caritas Lwiw betrieben wird. Der Kindergartenalltag scheint der gleiche zu sein, wie ich ihn auch aus dem Kindergarten meiner eigenen Kinder kenne. Lego, Bastelarbeiten, Ball- und Geschicklichkeitsspiele, Gesang und Tanz. "Manche der Kinder sprechen nicht mehr", reißt mich Kindergärtnerin Maria Nedikya aus meinen Gedanken. "Sie haben Stress und Traumata erlebt. Eines unserer Kinder saß 58 Tage in einem Keller in Mariupol. Es hat lange gedauert, bis es ihm besser ging. Die Väter kämpfen an der Front. Die Kleinen fürchten sich davor, dass ihr Papa nicht wiederkommt", fährt Maria Nedikya fort. Da ist er wieder – der zweite Eindruck.
Die Kinder ziehen sich unterdessen Jacken, Mützen und Handschuhe an. Die Vorfreude auf die Schneeballschlacht am Spielplatz im Innenhof ist ihnen in die Gesichter geschrieben. Spielplatz und Gruppenraum sind groß, aber wieso sind hier nur so wenig Kinder, der Bedarf müsste doch groß sein, frage ich mich. "Maximal zwölf Kinder pro Gruppe", erklärt Maria Nedikya. "Das ist die Vorgabe der Stadt. Andernfalls können wir bei Luftalarm nicht schnell genug evakuieren."
Nicht nur im Kindergarten haben sich die Umstände für die Arbeit der Caritas stark verändert. Der Bedarf in der Bevölkerung, insbesondere der Geflüchteten aus den anderen Landesteilen, steigt stetig. Hinzu kommt, dass die Angebote der Caritas ständig angepasst werden müssen. Momentan fehlt es an Psycholog_innen, denn niemand war auf den Bedarf an ihnen vorbereitet. "In Zukunft wird die Arbeit mit alten Menschen eine Herausforderung darstellen", blickt Andriy Seneyko, Direktor der Caritas Lwiw, auf die Aufgaben der kommenden Monate und Jahre. "Viele Seniorinnen und Senioren sind hierher geflohen, alleine, einsam und auf Hilfe angewiesen. Sie werden hier bleiben, denn ihr Zuhause wurde zerstört. Und bald schon werden wir auch Projekte für zurückgekehrte, verletzte oder traumatisierte Soldaten und ihre Familien anbieten müssen. Wir wissen ja, wie viele Menschen auf verschiedene Arten von dem Krieg betroffen sind."
Am letzten Abend meiner Reise lerne ich Ivan kennen. Er ist 24 Jahre alt und hat sich gemeinsam mit einem Freund einen Lebenstraum erfüllt und eine kleine Bar eröffnet. Selbstgemachte Liköre scheinen eine Spezialität der beiden zu sein, die Bar ist gut gefüllt. Musik ertönt, die Stimmung ist ausgelassen. Auch hier scheint der Krieg weit weg zu sein. "Ich habe Angst, dass ich an einem Checkpoint, beim Einkaufen oder bei irgendeiner anderen Gelegenheit plötzlich meinen Einberufungsbescheid in die Hand gedrückt bekomme", offenbart Ivan zu späterer Stunde. "Ich bewege mich daher nur noch so wenig wie möglich." Wieder einmal hat mich mein erster Eindruck getäuscht.
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