„ Ein Zeichen für alle Menschen im Irak“
Dutzende von Terroranschlägen richteten sich seit 2003 gegen christliche Kirchen und Institutionen im Zentral- und Südirak und führten zur Vertreibung Tausender christlicher Familien aus irakischen Städten (Bagdad, Mosul, Basra, Ramadi und andere). Wie groß war der Verlust der christlichen Bevölkerung und der Kultur im Irak, und gibt es Hoffnung, dass die Situation mit der Rückkehr der Christen jemals so sein wird wie zuvor?
Bischof Robert JarjisFoto: Chaldean Patriarchate of Babylon
Ich möchte Ihre Fragen auf zwei Ebenen beantworten: Erstens auf einer Ebene, die allgemein alle Menschen im Irak und nicht nur die Christen betrifft und zweitens auf einer speziell christlichen Ebene. Zur allgemeinen, den ganzen Irak betreffenden Ebene:
Dieser Verlust bedeutet vor allem den Verlust irakischer Kompetenzen, ob nun christlich oder nicht-christlich. Und er führt das Land in eine zwiegespaltene Zukunft voller Ignoranz. Es ist ein großes Problem für jede Gesellschaft, wenn sie ihre Kompetenzen verliert. Selbst Menschen, die (wieder) eingewandert sind, befinden sich auf der Verliererseite, weil das Land bedeutende Menschen verloren hat und mit diesen Menschen ihre Wurzeln, ihr Vermächtnis der Vergangenheit und ihre Erinnerungen verlorengegangen sind. So gesehen haben eigentlich alle verlore
Der Keim des gegenseitigen Misstrauens innerhalb des Volkes wurde schon unter dem früheren Regime gesät, aber er wurde stärker, als nach dem Jahr 2003 selbst Nachbarn über der Frage, welcher Religion oder Glaubensrichtung sie angehörten, zu Feinden wurden. Und er wurde noch stärker, als die Menschen 2014 ihren Nachbarn deren Besitz raubten. Die Menschen im Irak können heute nicht so tun, als wäre nichts geschehen und leiden unter dieser Saat des Misstrauens.
Zur speziell christlichen Ebene: Das irakische Volk ist ein sehr gutes Volk, aber es hatte lange Zeit mit Problemen zu kämpfen. Jetzt ist es müde und will den Frieden auf allen Seiten, innen wie außen. Und daher trifft es die Sache nicht ganz, wenn man nur von der Freiheit der Christen spricht - so als ob dies das Einzige wäre, was fehlt. Kommt doch die religiöse (christliche) Freiheit ja auch nur aus einer anderen Art von Freiheit. Man kann sagen, dass die meisten Religionen im Irak die Freiheit genießen, ihre Riten zu praktizieren. Aber bedeutet das auch, dass sie alle frei sind? Noch immer bereitet unsere Verfassung den Christen und anderen Minderheiten Probleme. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen: Einer der Gesetzestexte, der religiöse Minderheiten, einschließlich Christen, Jesiden und sabäische Mandäer mit ihren religiösen Rechten verunglimpft, ist mit den Menschenrechten nicht vereinbar und war mit einer der Gründe für ihre Abwanderung. Ich spreche vom Artikel 21, 3 des Personenstandsgesetzes, das Teil des Gesetzes für zivile Angelegenheiten Nummer 65 in der 1972 ist und in dem Minderjährige zum Islam gezwungen werden, wenn ihre Eltern einmal als islamisch registriert worden waren (Anmerkung des Übersetzers: Hintergrund ist, dass während des Baath-Regimes nicht-muslimische Minderheiten ihren Glauben als muslimisch angeben mussten, um Personalausweise zu erhalten. Laut dem vom Bischof erwähnten Gesetz dürfen sie ihre ursprüngliche religiöse Identität nicht mehr an ihre Kinder weitergeben, wenn sie einmal als Angehörige des Islam registriert waren). Der chaldäische Patriarch, Kardinal Sako, hat dieses Gesetz schon häufig beanstandet, man hat aber nicht auf ihn gehört.
Kardinal Sako hat sich immer stark gegen religiöse Hassreden, von welcher Seite sie auch kommen mögen, gewehrt und Gott sei Dank ist das heute kein so großes Thema mehr. Aber wir haben immer noch einen langen Weg vor uns, bis es gar keine religiöse Hassreden mehr gibt.
Hat der Irak-Besuch von Papst Franziskus den Christen im Land neue Hoffnung verliehen?
Der Papst kam nicht, um die Probleme des Irak zu lösen, denn diese sollten intern gelöst werden. Aber der Heilige Vater setzte Zeichen für alle Menschen im Irak, weil er ja nicht nur für die Christen, sondern für alle Iraker kam. Aber natürlich schenkte er den Christen große Hoffnung und Kraft auch für die Christen. Von dem, was sein Besuch für alle Iraker bedeutete, möchte ich etwas besonders anführen: Die Einheit.
Papst Franziskus während seiner Irakreise in Mossul: "Viele Irakerinnen und Iraker haben während des Besuchs Freude gespürt", sagt Bischof Jarjis.Foto: Wikimedia Commons
Dass sie diese wichtige Persönlichkeit bei sich empfangen durften, einte die meisten Iraker und machte sie glücklich. Wir haben Videos gesehen, in denen Familien aus ihren Wohnungen kamen, um ihn zu begrüßen, als er in der Nähe ihrer Häuser vorbeikam. Mit seinem Besuch erzeugte er ein Gemeinschaftsgefühl - ein Gefühl, bei einer Sache dabei zu sein, die für den Irak gut ist und einmal nicht an die Probleme zu denken, die uns voneinander trennen. Das war ein Geschenk, das uns der Herr durch den Heiligen Vater an das irakische Volk gemacht hat.
Unser Volk hat vielleicht seit Jahren keine große Freude mehr erfahren. Bei diesem Besuch aber haben viele Freude verspürt (sicherlich ganz besonders die Christen), und Freude ist doch gewöhnlich etwas, das verbindet.
Uns Christen bescherte dieser Besuch eine große Hoffnung, weil wir spürten, dass wir nicht verlassen und vergessen sind, denn es tut manchmal sehr weh, sich allein zu fühlen. Und mit diesem Besuch fühlte die christliche Gemeinschaft - nach all dem, was sie in den letzten Jahren erlebt hat - wieder ihren Wert, den sie vor Gott hat.
Um all jenen, die den Irak verlassen haben, bei der Rückkehr zu helfen, bedarf es eines gut durchdachten und langfristigen Projekts, bei dem die Regierung und alle Beteiligten im festen Glauben daran mitwirken müssen, dass sich die Situation ändern muss. Dieser feste Glaube ist absolut entscheidend. Wenn dieser da ist, können wir damit beginnen, Sicherheit, Arbeitsplätze und Bildungsprogramme im Land zu schaffen.
Was ist für Ihre Kirche im Nahen Osten und speziell im Irak die größte Herausforderung?
Die Kirche in diesem Teil der Welt hatte noch nie eine längere Periode der Ruhe, daher fehlte es ihr auch nie an Herausforderungen. Die Herausforderungen, die sich ihr jetzt in dieser Zeit stellen, kann man als eine Kraft für ihre Erneuerung sehen. Eine der praktischen Herausforderungen für die christliche Gemeinde hier wäre es, den Menschen würdige Perspektiven zu schaffen, im Sinne von guten Arbeits- und Wohnmöglichkeiten und Bildungschancen. Das wird nicht durch die Kirche allein, sondern nur mit der Unterstützung vieler anderer in anderen Teilen der Welt möglich sein.