Unterm Radar - Binnenvertreibung in Afrika
In Afrika lebt ungefähr ein Sechstel der Weltbevölkerung, aber über ein Drittel aller Flüchtlinge weltweit. Die meisten dieser 25 Millionen Menschen haben entweder keine Chance oder nicht den Wunsch, eine Grenze zu überqueren, um ihr Heimatland zu verlassen. Sie sind Binnenvertriebene - "Internally Displaced Persons" (IDPs). Zurzeit erleiden ungefähr 18 Millionen Afrikaner dieses Schicksal. Die meisten IDPs verzeichnet die Demokratische Republik Kongo (über fünf Mio. IDPs), gefolgt von Somalia, Nigeria, Äthiopien, Südsudan und Sudan[1]. Gemessen am Anteil der fliehenden Menschen an der Gesamtbevölkerung des Landes weist die Zentralafrikanische Republik die höchste Zahl an Vertreibungen auf: Fast jeder vierte Einwohner ist dort auf der Flucht (IDPs und Flüchtlinge in Nachbarländern zusammengerechnet )[2]. Weitere schwere Vertreibungskrisen gibt es derzeit in Burkina Faso, Mali und Kamerun.
Fluchtgrund: Angst vor Gewalt
Was treibt Menschen in Afrika südlich der Sahara zur Flucht? In den allermeisten Fällen die begründete Furcht davor, Opfer gewaltsamer innerstaatlicher Konflikte zu werden. Auch wenn jedes afrikanische Land seine ganz eigene, komplexe Geschichte hat und Pauschalisierungen nicht sinnvoll sind, so gibt es bei den Fluchtursachen doch einige Parallelen. So spielen sich die meisten schweren Vertreibungskrisen in Ländern ab, die seit Jahrzehnten Schauplatz blutiger Rebellionen, nicht minder gewalttätiger Repressionen von Seiten der Staatsorgane oder Kämpfen zwischen einer Vielzahl skrupelloser "Warlords" sind. Opfer der Kämpfe sind ganz überwiegend wehrlose Zivilisten.
Camp für Binnenvertriebene in Somalia.Foto: Amunga Eshuch
Zu den weiteren Flucht- und Vertreibungsursachen zählen gewaltsame Auseinandersetzungen anlässlich von Wahlen, wie etwa bei der Vertreibung von ca. 650.000 Menschen in Kenia 2007 und 2008. Vom Staat erzwungene Umsiedlungen wie Mitte der 1980er Jahre in Äthiopien (2,5 Millionen Menschen) oder Naturkatastrophen wie aktuell in Mosambik infolge des Zyklons Idai, sind ebenfalls oft Fluchtgründe.
IDPs haben kaum Rechte
Wie kann man die Situation von Binnenflüchtlingen beschreiben? Es gibt einzelne Fälle großer Camps für IDPs wie zum Beispiel im westsudanesischen Darfur. Die meisten Binnenvertriebenen leben aber verstreut in Dörfern und Städten. Sie sind auch deshalb besonders schutzbedürftig, weil ihnen ein rechtlich bindender Schutz - analog zur UN-Flüchtlingskonvention für grenzüberschreitende Flüchtlinge - bisher weitgehend fehlt. Es war der brillante südsudanesische Akademiker und Diplomat Francis Deng, der als erster UN-Sonderberichterstatter für die Rechte intern Vertriebener mit seinen "Leitlinien" 1998 die Grundlagen für einen völkerrechtlichen Schutz von IDPs formulierte. Davon inspiriert verabschiedete die Afrikanische Union 2009 die Konvention zum Schutz und zur Unterstützung intern Vertriebener, die sogenannte "Kampala Konvention", die mittlerweile 29 afrikanische Staaten ratifiziert haben. Aber bis zu einem effektiven Schutz und einem eingelösten Recht auf Hilfe mitten in eskalierenden Gewaltkonflikten, die ja ihrerseits durch Staatsversagen und Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet sind, ist es noch ein langer Weg[3].
Hinzu kommt: Die meisten Vertreibungssituationen in Afrika dauern länger als fünf Jahre, viele bis zu zwanzig Jahre oder länger. Das betrifft sowohl Binnenvertreibungen als auch grenzüberschreitende Fluchtbewegungen und bedeutet, Flüchtende verlieren auf Dauer den Zugang zu ihrem Land. Die Felder, die sie in ihrer Heimat bebaut hatten und die ihnen meist "nur" nach traditionellem Recht zustanden, werden von anderen in Besitz genommen. Oft haben sie bei der Flucht alle Besitztümer und Betriebsmittel verloren und sind auch am Zielort ihrer Flucht nicht sicher. Häufig werden sie erneut vertrieben. Die Unsicherheit, der Verlust von Selbstversorgungsmöglichkeiten und sozialen Bindungen sind schwer traumatisierend. Viele IDPs prägt das für Jahre und Jahrzehnte, auch wenn sie oberflächlich gesehen weiter "funktionieren" und handlungsfähig sind.
Prekäre Sicherheitslage, marode Infrastruktur
Dem humanitären Imperativ folgend, hat Caritas international in Afrika südlich der Sahara die Hilfe für Opfer von Krieg und Vertreibung zu ihrem Schwerpunkt gemacht. Derzeit leisten wir Hilfe für Binnenvertriebene in zehn afrikanischen Ländern: der Demokratischen Republik Kongo, Südsudan, Sudan, Nigeria, Tschad, Kamerun, Mali, Burkina Faso, der Zentralafrikanischen Republik und Somalia. Insgesamt erreichen wir mit unserer Hilfe auf dem afrikanischen Kontinent mehrere hunderttausend Menschen.
Der Kontext, in dem diese humanitäre Arbeit geleistet wird, ist besonders herausfordernd. Infolge der laufenden bewaffneten Auseinandersetzungen ist vielerorts die Sicherheit der Helfer bedroht. Neben den Zerstörungen durch Kriegshandlungen leiden die betroffenen Regionen unter jahrzehntelanger Vernachlässigung durch die Zentralstaaten. Einerseits ist das Bildungssystem schwer beeinträchtigt, andererseits fliehen viele gut ausgebildete Fachkräfte verständlicherweise ins Ausland, weshalb es häufig an gut ausgebildetem Personal mangelt. Gewachsene soziale Strukturen erodieren nach Jahren und Jahrzehnten chaotischer Konflikte, die Gefahr für Korruption und Missbrauch ist besonders hoch.
Abgebranntes Camp für Binnenvertriebene in der Zentralafrikanischen Republik: Häufig kommt es zu ethnischen Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung.Foto: Jiri Pasz / Caritas internationalis
Ein weiteres Charakteristikum der Vertreibungskrisen in Afrika ist, dass die unterschiedlichen Problemlagen gleichzeitig auftreten. In der Provinz Kasai in der Demokratischen Republik Kongo arbeitet die Caritas beispielsweise zugleich mit Binnenvertriebenen infolge eines gewaltsamen Konflikts, mit aus Angola zurückgeschobenen Migranten oder Flüchtlingen und mit der aufnehmenden Gastbevölkerung.
Angesichts dieser Umstände bin ich bei meinen Projektbesuchen immer wieder in hohem Maße beindruckt, wie einheimische Kolleginnen und Kollegen vor Ort aushalten, Hilfe organisieren und Inseln funktionierender sozialer Grunddienste aufbauen.
Boko Haram terrorisiert die Tschadseeregion
Ein trauriges Beispiel für eine komplexe Vertreibungssituation ist die Tschadseeregion. Seit zehn Jahren tobt dort ein gewaltsamer Konflikt zwischen der Terrormiliz Boko Haram und ihren Nachfolgerbewegungen auf der einen Seite und den Zentralstaaten und dörflichen Selbstverteidigungsgruppen auf der anderen. Die Kämpfer der Miliz überfallen regelmäßig Dörfer, ermorden Kinder, Frauen und Männer und verschleppen Jugendliche, um sie als Kämpferinnen und Kämpfer oder für Selbstmordattentate einzusetzen. Die Überfälle und die staatlichen Vergeltungsaktionen haben in Nigeria und seinen Nachbarländern Kamerun, Niger und Tschad seitdem zehntausende Menschen das Leben gekostet und mindestens 2,5 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen.
Boko Haram bedeutet "westliche Zivilisation ist schändlich". Die Bewegung war ursprünglich eine von mehreren radikal-islamischen Sekten, die als Ausdruck sozialen Protests in den 1980er Jahren in Nordnigeria entstanden und die Korruption und die aus ihrer Sicht laxe religiöse Praxis der herrschenden Oberschicht kritisierten. Großen Zulauf erhielt sie von verarmten Kleinbauern, die im Zuge der Desertifikation der Sahel-Region ihr Land verloren hatten. Sie gewann auch Anhänger in der städtischen Unterschicht, die sich keine westlichen Schulen leisten konnten und ihre Kinder in Koranschulen schickten, die zunehmend von radikalen Predigern unterwandert wurden.
Vertriebene stranden in Städten
Als staatliche Ordnungskräfte die Bewegung mit Gewalt niederschlagen wollten und ihren Gründer töteten, ging Boko Haram in den Untergrund und begann mit Guerilla-Aktionen beispielloser Gewalt gegen Soldaten wie Zivilisten. Bauern und Fischer werden seither auf dem Feld oder beim Einholen des Fanges massakriert. Sie fliehen in Städte und landen in Slums und Lagern ohne Zugang zu bebaubarem Land. Maiduguri, die Hauptstadt der Provinz Borno in Nigeria, hat seit dem Ausbruch des Konflikts eine Verdoppelung ihrer Einwohnerzahl erlebt. Ähnliche Entwicklungen kann man im Norden Kameruns beobachten. Dort mussten rund hundert Schulen an der Grenze zu Nigeria wegen der Überfälle schließen, die kirchlichen Schulen im Landesinneren müssen die geflohenen Schüler in provisorischen Hütten auf dem Schulhof unterrichten. Frauen, deren Männer vor ihren Augen ermordet wurden oder die von Milizen verschleppt und zwangsverheiratet wurden und fliehen konnten, werden angesichts dieser traumatischen Erlebnisse nie wieder in ihr Heimatdorf zurückkehren. Sie kommen mit ihren Kindern ohne Geld und Berufsausbildung in den Städten der Region an und können sich ohne Unterstützung nicht mehr selbst versorgen.
Friedliche Alternativen
Die Caritas-Strukturen in Nigeria, Kamerun und Tschad leisten mit Hilfe von Caritas international, dem Auswärtigen Amt und privaten Spendern akute Nothilfe und mit Unterstützung des BMZ ansatzweise Hilfe zur Selbsthilfe in den schwer betroffenen Regionen. Mit Geld für Nahrungsmittel, Unterstützung bei Landwirtschaft oder städtischen Kleinstbetrieben, Trauma-Arbeit mit vergewaltigten Frauen und Mädchen sowie Schulgeld, Büchern, Bänken und Schulräumen für vertriebene Kinder versuchen sie die akute Not von hunderttausenden Opfern des Konflikts zu lindern.
Neben der akuten Nothilfe ist auch Arbeit an den Wurzeln des Konflikts bitter nötig. Viele arbeitslose junge Männer werden von den Milizen angeworben. Gegen ein Handy oder ein Motorrad verdingen sie sich als Späher oder leisten Hilfsdienste, bis sie in die Rolle aktiver Kämpfer hineinrutschen. Hier bedarf es Initiativen der Berufsausbildung und Existenzgründung, um friedliche Alternativen für perspektivlose Jugendliche zu bieten. Auch muss der Vergiftung des sozialen Klimas entgegengewirkt werden. Das kirchliche "Kukah Centre" in Nigeria unterstützt gemäßigte islamische und christliche Religionsführer und Frauen und Männer des öffentlichen Lebens in ihren Bemühungen um interreligiösen Dialog und Verständigung.
Innovative Lösungsansätze
Eine andere Herausforderung ist der Zugang zu Land. Zwar gibt in den meisten unserer Projekte die aufnehmende Gastbevölkerung bereitwillig Land an die Neuankömmlinge ab, und teilen vor längerer Zeit Vertriebene ihre knappe Hilfe mit frisch ankommenden Flüchtenden.
Viele Menschen mussten aus Angst vor der Terrorgruppe Boko Haram ihre Heimat verlassen. Dieses Kind lebt in einem Vertriebenen-Camp in Nordkamerun und kann dort - unter anderem mit der Hilfe der Caritas - zur Schule gehen.Foto: Corrado Disegna / Caritas international
Aber dort, wo Vertriebene auf Dauer siedeln, müssen sie mit den Einheimischen knappe Ressourcen teilen und es müssen latente Konflikte geregelt werden. Hier braucht es innovative Lösungen. Die Caritas Goré im Süd-Tschad experimentiert mit quasi-legalen Pachtverträgen zwischen Einheimischen und aus der Zentralafrikanischen Republik Geflüchteten. Die von der Caritas bezeugten und schriftlich dokumentierten Landvergaben geben beiden Seiten Sicherheit in einem von Rechtsunsicherheit geprägten Umfeld. In einem von Caritas international organisierten Treffen der Partner aus Nigeria, Tschad und Kamerun stellte die Caritas Goré den Kolleginnen und Kollegen, die in der Tschadseeregion arbeiten, diesen Projektansatz vor, er stieß auf großes Interesse z.B. der Caritas in Nordostnigeria.
Im Zuge der internationalen Tschadseekonferenzen von Oslo (2017) und Berlin (2018), wurden von den Vereinten Nationen und den betroffenen Regierungen der Region Initiativen zur Bekämpfung der Konfliktursachen auf den Weg gebracht. Sie kranken aber daran, die lokale Zivilgesellschaft nur auf rhetorischer Ebene oder gar nicht einzubinden. Das ist sehr bedauerlich, denn einheimische Organisationen wie die Caritasverbände von Nigeria, Kamerun und Tschad arbeiten schon seit Jahrzehnten in der Region und kennen die Probleme und Lösungsansätze bestens.
Die oft unterstellte Gewöhnung an externe Hilfe kennen wir aus unserer Arbeit kaum. Die Menschen in den abgelegenen und von Konflikten erschütterten Regionen, helfen sich in der Regel in beeindruckender Weise vor allem selbst.
Volker Gerdesmeier, September 2020
Volker Gerdesmeier ist Leiter des Afrika-Referats bei Caritas international.
[1] Zahlen nach IDMC: Africa Report on Internal Displacement 2019.
[2] UNOCHA: CAR Humanitarian Needs Overview 2019.
[3] Funke, C. and Dijkzeul, D. (2017) ‘The Growing Pains and Growing Neglect of a Normative Framework: The Guiding Principles on Internal Displacement’, Humanitäres Völkerrecht Informationsschriften, 3/4, pp. 91-101.