Im Würgegriff der Gewalt – Binnenvertreibung in Zentralamerika
Eine Frau, die in einer honduranischen Kleinstadt einen Imbiss betreibt, muss regelmäßig Schutzgeld an eine kriminelle Gang zahlen. Doch sie kann das Geld nicht aufbringen, denn wegen der anhaltenden Dürre im Land ist der Preis für die Grundnahrungsmittel Reis und Bohnen gestiegen. Die Frau erhält Drohungen. Nach drei Wochen Zahlungsrückstand wird ihr Mann beim Abendessen umgebracht, vor den Augen der drei minderjährigen Töchter. Die Frau wendet sich nicht an die Polizei, sondern flieht mit ihren Kindern in die Hauptstadt. Ob ein Gangmitglied der Täter war, ob die ausbleibenden Schutzzahlungen der Grund waren oder ob es vielleicht eine Verwechslung war - sie weiß es nicht. Anzeige wird sie nie erstatten, aus Angst vor Vergeltung und weil sie nicht an einen funktionierenden Rechtsstaat in ihrem Land glaubt.
Diese Geschichte klingt übertrieben, ist aber in weiten Teilen Zentralamerikas nicht außergewöhnlich. Tausende Menschen insbesondere aus Guatemala, Honduras und El Salvador, den Ländern des sogenannten nördlichen Dreiecks, sind auf der Flucht. Die medienwirksamen Bilder der Migrantenkarawanen in Richtung USA zeigen allerdings nur einen Teil der Problematik: An den "amerikanischen Traum" glauben die Wenigsten, und die Flucht über die Landesgrenzen hinweg ist ein Akt der Verzweiflung, nachdem viele bereits innerhalb ihres Landes geflüchtet sind. In den letzten Jahren ist nicht nur die Zahl der Flüchtlinge aus Zentralamerika auf über 400.000 Menschen gestiegen[1], sondern auch die innerstaatlichen Fluchtbewegungen nehmen zu: Allein in El Salvador und Honduras gibt es 318.000 IDPs, die größtenteils auf sich allein gestellt sind.[2]
Ursprung der Maras
Diese humanitäre Krise wird nicht ausgelöst durch einen akuten Krieg oder eine Naturkatastrophe. Es ist, neben Armut und Arbeitslosigkeit, die Gewalt und die damit zusammenhängende Gefahr und Perspektivlosigkeit, die die Menschen zur Flucht zwingt. In den letzten Jahren übertrafen die Mord- und Gewaltraten im nördlichen Dreieck diejenigen aktueller Kriegsgebiete.[3] Verantwortlich dafür ist vor allem die organisierte Kriminalität im Zusammenhang mit Drogenhandel, Geldwäsche und Bandenkriminalität.
Was nach einem Teaser für eine Actionserie klingt, ist in Honduras, El Salvador und Guatemala Realität. Diese Länder gelten als Umschlagsplatz des internationalen Drogenhandels, an dem sich Kartelle, korrupte Machthaber und kriminelle Banden beteiligen. Dabei werden die Strukturen der sogenannten "Maras" genutzt, um Schmuggelrouten oder Territorien zu sichern. Die als "Maras" bezeichneten kriminellen Banden haben ihren Ursprung in den 1980erJahren in den USA. In Los Angeles schlossen sich damals mittelamerikanische Einwanderer, die häufig aufrund der Kriege in ihren Ländern in die USA migriert waren, in Gangs zusammen, um sich gegen andere bestehende Gangs zu behaupten. Als die Bürgerkriege in Mittelamerika endeten, wurden straffällig gewordene Personen in ihre Herkunftsländer abgeschoben, die ihnen aber oft fremd waren. Viele hatten ihre Kindheit und Jugend in den USA verbracht. In den von Krieg und Armut geprägten Post-Konflikt-Gesellschaften Zentralamerikas mit extrem hohem Waffenaufkommen und schwachen Sicherheitsstrukturen konnte sich die mitgebrachte Mara-Subkultur mit ihren Jugendbanden schnell ausbreiten.
Soziale, politische und wirtschaftliche Misstände trugen dazu bei, dass diese Gangs ihren gesellschaftlichen Einfluss immer weiter ausbauen konnten. Sie haben eine Art Parallelgesellschaft aufgebaut, in der sie das Sagen und staatliche Institutionen geringen oder gar keinen Einfluss haben. Teilweise sind Sicherheitskräfte und Justiz von Bandenmitgliedern unterwandert.
"Mara barrio" 18 und "Mara Salvatrucha" sind heute die beiden größten rivalisierenden Gangs, die allein in El Salvador über 60.000 Mitglieder haben. Hinzu kommen ihre Familien und tausende Menschen, die für sie arbeiten, was bedeutet, dass ihr politischer und wirtschaftlicher Einfluss enorm ist.
Von Gewalt geprägter Alltag
Welche akute Gefahr geht von den Banden für die Zivilbevölkerung aus? Die Maras konkurrieren untereinander im Kampf um Territorien - das können Dörfer, Stadtviertel oder ganze Regionen sein. Von der dort lebenden Bevölkerung verlangen sie Gehorsam. Geschäftsleute, Ladenbesitzer, Bus- und Taxifahrer müssen oftmals Schutzgeld an die Maras zahlen. Wer sich wehrt oder nicht zahlen kann, wird bedroht, Frauen werden sexuell missbraucht. Je mehr Territorium eine Bande beherrscht, desto mehr Einnahmemöglichkeiten hat sie. Weitere Einnahmequellen der Gangs sind Drogen- und Waffenhandel, Menschenschmuggel und Überfälle.
Nicht immer interessieren sich Bandenmitglieder für die Zivilbevölkerung, weshalb viele Leute versuchen, sich mit den Gangs zu arrangieren. Sie hoffen, gar nicht erst in ihr Visier zu geraten. So werden Geschäfte oftmals nach den ersten Erpressungen geschlossen, Eigentum wird freiwillig abgetreten, oder Jugendliche fliehen präventiv, um sich dem Einfluss der Banden zu entziehen. Denn Kinder und Jugendliche werden oft zum Beitritt gezwungen und für kriminelle Aufgaben eingesetzt.
Fehlende Rechtssicherheit
Eine Anzeige erstatten die Betroffenen nur selten. Man könnte sagen, dass in den Ländern des nördlichen Dreiecks zu großen Teilen Straflosigkeit und unzureichende Rechtssicherheit herrschen und die Staaten nicht in der Lage sind, ihren Steuerungs- und Ordnungsfunktionen gerecht zu werden. Oft sind kriminelle Akteure, staatliche Funktionäre, Unternehmer und nicht selten auch Polizei und Militär miteinander verflochten und der Einfluss der Gangs wird als politische Entschuldigung für Versäumnisse vorgeschoben.
Hinzu kommt, dass die teilweise repressiven Einsätze von Militär und Polizei im Kampf gegen die Gangs selbst Vertreibungen auslösen. Wer sich nicht sicher ist, bei einer Anzeige mit einem Verfahren gegen die Täter rechnen zu können, sondern Angst hat, sich selbst noch mehr zu gefährden, lässt es lieber bleiben und flieht still und leise, ohne großes Aufsehen zu erregen. Nicht nur die Angst vor Vergeltung, auch das geringe Maß an Vertrauen in die staatlichen Behörden und das grundsätzlich herrschende gesellschaftliche Misstrauen sind alarmierend. Über ihre Situation berichten die Betroffenen aus Angst vor Repressalien nur selten, und in den Statistiken über Binnenflüchtlinge tauchen nicht alle Vertriebenen auf.
Flucht in die Stadt
Neben den Maras wird die Vertreibung in Zentralamerika aber auch durch strukturelle Gewaltursachen gefördert.[4] Dazu gehören häusliche und sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Frauen, die Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung oder einer indigenen Zugehörigkeit. Auch die für weite Teile der Bevölkerung nach wie vor vorherrschende Armut, mangelnde Bildungschancen und fehlende Jobmöglichkeiten tragen entscheidend dazu bei, dass Menschen in andere Landesteile migrieren müssen. Großprojekte wie Wasserkraftwerke und Tagebau, wodurch es oftmals zu Landstreitigkeiten und damit verbundenen Zwangsevakuierungen bäuerlicher Gemeinden kommt, sind ebenfalls Auslöser für Binnenvertreibung.[5] Ein weiterer häufiger Fluchtgrund ist der Entzug der Lebensgrundlage durch industrielle Monokulturen, die den umliegenden Gemeinden das Wasser abzweigen und durch ihren Pestizideinsatz das Grundwasser verseuchen.
Viele der Binnenvertriebenen suchen Zuflucht in den größeren Städten. Sie bieten zwar mehr Einkommensmöglichkeiten als ländliche Gebiete, Sicherheit und Schutz werden allerdings auch dort nicht garantiert. Vor allem Großstädte wie Tegucigalpa, San Salvador und Guatemala-Stadt haben Gewaltraten, die mit Kriegsgebieten vergleichbar sind, und zählen zu den Städten mit den höchsten Mordraten weltweit. Viele IDPs kommen aber gerade in den von Maras beherrschten, meist ärmeren Stadtteilen unter.
Die Flucht in die Städte trägt zudem zu einer raschen und ungeplanten Urbanisierung bei, was die in den überfüllten städtischen Randgebieten ankommenden IDPs vor zusätzliche Herausforderungen stellt. Hinzu kommt, dass durch die Vertreibung oftmals familiäre Netzwerke auseinandergerissen werden, die in Gesellschaften, in denen es keine staatliche soziale Absicherung gibt, besonders wichtig sind. Viele Kinder gehen nach der Flucht nicht wieder zur Schule, die Jugendarbeitslosigkeit unter IDPs ist weit verbreitet. All dies führt nicht selten dazu, dass Betroffene aus der Not heraus selbst kriminell werden. Vor allem Jugendliche sind in dieser Situation empfänglich dafür, sich von Gangs rekrutieren zu lassen. [6]
Caritas-Ansatz
Es gibt unterschiedliche Gründe, sich einer Mara anzuschließen: Sie bietet eine Art Schutz und finanzielle Absicherung, gibt den Jugendlichen eine Aufgabe und stellt eine Art "Ersatzfamilie" für oftmals eltern- oder vaterlose Kinder dar. Für einige bietet sie die einzige Chance auf Überleben oder Stabilität.
Es liegt auf der Hand, dass es für die vielfältigen Ursachen für Gewalt und Vertreibung nicht ein einziges Rezept zur Problemlösung gibt. Dennoch können sich NGOs oder die Caritas auf vielfältige Weise darum bemühen, den Kreislauf der Gewalt an unterschiedlichen Stellen zu durchbrechen. In Guatemala kooperiert Caritas international beispielsweise mit der Caritas Suchitepéquez, die mit Kindern und Jugendlichen zum Umgang mit verschiedenen Gewaltformen arbeitet und dabei die Familien und die Schulen einbezieht. Gemeinsam mit anderen Institutionen werden Präventionsstrategien erarbeitet, die dann den kommunalen Behörden zur Anwendung vorgeschlagen werden. In San Pedro Sula, Honduras, ermöglicht die Gefängnispastoral die Reintegration von Haftentlassenen. Einige von ihnen engagieren sich inzwischen selbst in Gefängnissen und Schulen und tragen so zur Prävention von Gewalt bei.
In diesen sowie weiteren von Caritas international geförderten Projekten in Zentralamerika geht es darum, Anlaufstellen für von Gewalt betroffene Menschen zu schaffen. Außerdem werden (potentielle) Opfer und Täter von Gewalt darin unterstützt, eigene Lebensperspektiven aufzubauen und sich in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in einer von Misstrauen geprägten Gesellschaft ist dabei von enormer Bedeutung, ebenso wie die koordinierte Zusammenarbeit mit anderen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren zum Schutz vor Gewalt.
Nora Hubrich war von 2017 bis 2019 bei Caritas international Projektreferentin für Zentralamerika und den Cono Sur. Derzeit studiert sie Urban Management im Master an der TU Berlin und ist für Caritas international als Beraterin für ein regionales Gewaltpräventionsprojekt in Guatemala, Honduras und Mexiko tätig.
[1] UNHCR (2020): DIsplacement in Central America. URL:https://www.unhcr.org/displacement-in-central-america.html
[2] International Displacement monitoring centre (2019): Country profiles. URL:https://www.internal-displacement.org/countries/
[3] UNODC (2019): Global Study on Homicide. URL:https://www.unodc.org/unodc/en/data-and-analysis/global-study-on-homicide.html
[4] OAS / IACHR (2018): Internal Displacement in the Northern Triangle of Central America. URL: http://www.oas.org/en/iachr/reports/pdfs/InternalDisplacement.pdf
[5] Internal Displacement Monitoring Centre (2018): Cause or consequence? Reframing violence and displacement in Guatemala. URL: https://www.internal-displacement.org/sites/default/files/publications/documents/201809-guatemala-cause-or-consequence-en.pdf
[6] United Nations Office on Drugs and Crime (2019): Global Study on Homicide. URL: https://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/gsh/Booklet2.pdf