Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr herzlich begrüße ich Sie hier am Berliner Sitz des Deutschen Caritasverbandes zur Vorstellung des Jahresberichtes unseres Hilfswerkes Caritas international. Wir möchten zum einen mit Ihnen über unsere Einschätzung zur aktuellen humanitären Lage in Afghanistan, in Nordkorea und Ostafrika sprechen. Zum anderen kann ich heute mit Vorlage des Jahresberichtes Rechenschaft über die Einnahmen und Ausgaben von Caritas international ablegen.
Lassen Sie mich mit Afghanistan beginnen. Nachdem zehn Jahre lang aus humanitären Gründen ein faktischer Abschiebestopp galt, werden seit dem vergangenen Jahr - wie Sie wissen - auf Betreiben der Bundesregierung afghanische Staatsbürger wieder aus Deutschland abgeschoben. Seitdem diskutiert Deutschland die Frage: Können Menschen in ein Land abgeschoben werden, das regelmäßig von verheerenden Anschlägen erschüttert wird und in den allermeisten Regionen Krieg herrscht?
Unsere Antwort auf diese Frage lautet in der knappest möglichen Form: Nein. Abschiebungen nach Afghanistan sind derzeit nicht zu verantworten. Abschiebungen nach Afghanistan setzen die Menschen unüberschaubaren Risiken aus und sind unserer festen Überzeugung nach humanitär hochproblematisch und integrationspolitisch unklug. Diese Einschätzung stützt sich sowohl auf unsere 30-jährige Erfahrung in Afghanistan wie auch die Integrationsarbeit unserer Caritas-Beratungsstellen in ganz Deutschland.
Zur Verdeutlichung dieser Einschätzung zunächst einige zentrale Zahlen und Fakten zur Sicherheitslage in Afghanistan:
- Seit mehr als 40 Jahren herrscht in Afghanistan Krieg. In keinem anderen Land der Erde gibt es eine höhere Konzentration an terroristischen Organisationen. Es wundert deshalb nicht, dass kein anderes Land so viele Flüchtlinge hervorgebracht hat.
- Auf dem Global Peace Index des Friedensforschungsinstitutes Sipri rangiert Afghanistan auf Platz 160 von 163 Plätzen. Nur die Kriege in Syrien, im Südsudan und im Irak werden von Sipri als gewalttätiger eingestuft.
- 11.500 Afghanen wurden im Jahr 2016 bei Kämpfen getötet oder verletzt - ein zuvor nie erreichter trauriger Rekordwert. Jedes dritte Opfer war ein Kind.
- Seit dem Fall von Kundus im Jahr 2015 und dem Vorrücken der Taliban mussten 600.000 Afghanen innerhalb ihres Landes fliehen. Das sind dreimal so viele wie 2014 und sechs Mal so viele wie 2012. Insgesamt gibt es 1,8 Mio. Binnenflüchtlinge.
Wir haben es also unübersehbar mit einer kontinuierlichen Verschlechterung der Sicherheitslage zu tun. Der verheerende Anschlag nahe dem Botschaftsgelände vom 31. Mai dieses Jahres, der in Deutschland für viel Aufsehen gesorgt hat, war insofern nur ein weiterer trauriger Vorfall einer Kette von seit Jahren nicht abreißenden schlechten Nachrichten.
Weil so offensichtlich ist, dass Afghanistan nicht sicher ist, bedient sich das Innenministerium hilfsweise der Formulierung, das Land sei "in einigen Gebieten hinreichend sicher". Es soll sich wohl um die Provinzen Kabul, Bamian, Pandschir und Herat handeln. Also maximal vier von 34 Provinzen.
Doch wenn wir uns die tagtägliche Realität in diesen vermeintlichen "Inseln der Sicherheit" anschauen, stellen wir fest, dass auch diese regelmäßig von Anschlägen erschüttert werden wie etwa Kabul. Oder diese Provinzen, wie im Fall von Bamian, wo wir unter anderem Tuberkulose-Projekte unterstützen. Dort sind wir ohne Risiko nur per Luft zu erreichen, weil alle Zugangsstraßen von Taliban kontrolliert werden.
Wer die Wirklichkeit in Afghanistan kennt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich bei der Wiederaufnahme von Abschiebungen seit dem letzten Jahr durch die Bundesregierung um eine in erster Linie innenpolitisch motivierte Entscheidung handelt. Es drängt sich der Eindruck auf: Nicht die Lage in Afghanistan hat sich verbessert, sondern die politische Stimmung in Deutschland hat sich geändert. Es darf aber nicht sein, dass die politisch Verantwortlichen in Deutschland, in dem Bemühen, die Zahl der bei uns Schutzsuchenden zu senken, Menschen in eine Gefahr an Leib und Leben abschieben. Aufgrund der diffusen und volatilen Sicherheitslage ist es aus unserer Sicht äußerst fraglich, ob eine gesicherte abschließende Einschätzung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder die Verwaltungsgerichte angesichts der derzeitigen Situation in Afghanistan möglich ist. Wir fordern deshalb eine Aussetzung der Abschiebungen nach Afghanistan. Eine neue Einschätzung der Gefahrenlage durch das Auswärtige Amt ist zwingend notwendig.
Besonders im Fokus steht seit einiger Zeit die Abschiebung von Straftätern. Dazu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausdrücklich und wiederholt festgestellt, dass der in Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention gewährleistete Schutz vor Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ausnahmslos ist. Eine drohende Verletzung von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention aber ist in Afghanistan derzeit nicht auszuschließen. Der Abschiebungsschutz muss deshalb nach Auffassung des Deutschen Caritasverbandes grundsätzlich auch Straftäter, Gefährder und Menschen umfassen, die eine Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung verweigert haben, sofern ihnen nachweislich eine unmenschliche Behandlung im Zielstaat droht. Eine Abwägung mit den staatlichen Sicherheitsinteressen schließt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus. Es handelt sich also um einen durch keine Ausnahme zu durchbrechenden Schutz gegen Abschiebung bei entsprechender Gefährdungslage.
Wir wenden uns ebenfalls gegen Abschiebungen nach Afghanistan über Umwege. Sofern die Gefahr besteht, dass Abschiebungen von anderen Mitgliedstaaten der EU aus stattfinden, müssen Rücküberstellungen in andere Mitgliedstaaten ausgesetzt werden. Andernfalls würden hierdurch nicht hinnehmbare Kettenabschiebungen durchgeführt. Dies wäre im Falle von Norwegen besonders prekär, da Norwegen nach Informationen des deutschen Caritasverbandes derzeit auch Familien mit Kindern nach Afghanistan abschiebt.
Lassen Sie mich schließlich noch etwas zu den in den vergangenen Wochen anhand einzelner konkreter Fälle behaupteten Vorwürfen des Asyl-Missbrauchs durch Konversion vom Islam zum Christentum sagen. Es ist wichtig zu wissen, dass es sich hierbei um kein Massenphänomen handelt. Laut den letzten verfügbaren Zahlen sprechen wir bundesweit von rund 150 Taufbewerbern pro Jahr. Jeder Taufe geht dabei ein längeres, in der Regel ein Jahr dauerndes Katechumenat voraus. Doch selbst nach Abschluss dieses Verfahrens und der Taufe durchlaufen die Personen selbstverständlich ein reguläres Asylverfahren. Eine Konversion allein begründet keinen Anspruch auf Asyl.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir stehen Schutz- und Hilfesuchen-den afghanischer Herkunft nicht nur in Deutschland zur Seite, sondern setzen uns mit unserem Hilfswerk Caritas international seit mehr als 30 Jahren auch dafür ein, die Lebensgrundlagen der afghanischen Bevölkerung in ihrer Heimat dauerhaft zu verbessern. Ein Engagement, das vielerorts Früchte trägt. Etwa wenn Mädchen und Frauen wieder zur Schule gehen können oder die medizinische Versorgung auf dem Land besser wird. Ohne unsere eigene Rolle zu überschätzen, können wir sagen, dass zum Beispiel unsere Bewässerungsprojekte im afghanischen Hochland einen Beitrag zu einer nachhaltigen Landwirtschaft leisten und für viele Menschen im zentralen Hochland neue Perspektiven schaffen.
Wenn wir einen Kleinbauern am Hindukusch dabei unterstützen, dank verbesserter Anbautechniken mehr Ertrag aus seinen Feldern zu holen und gleichzeitig in seiner von Dürre geplagten Region die Nutzung des spärlichen Wassers effizienter zu gestalten, dann ist das einerseits konkrete Überlebenshilfe, schafft aber auch Perspektiven für nachfolgende Generationen. Das ist nicht wenig. Aber mit dem Abzug der internationalen Truppen musste das Land einen immensen Wirtschaftseinbruch hinnehmen, zudem wurden im vergangenen Jahr 610.000 Afghanen aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran nach Afghanistan ausgewiesen. Die Gefahr der Überforderung des Landes ist offensichtlich.
Afghanistan steht auch vor ungeheuren sozialen Herausforderungen. Ich will hier nur die Landflucht, die Verslumung der Städte, die auseinanderfallenden Familien und den Drogenmissbrauch nennen. Afghanistan wächst jedes Jahr um eine Million Menschen. Viele entwicklungspolitische Erfolge werden allein durch diese Bevölkerungsexplosion wieder aufgezehrt. Aber auch der stetig steigende Drogenmissbrauch bereitet große Sorgen: Eine Million Afghanen konsumieren regelmäßig Drogen und wir müssen davon ausgehen, dass diese Zahlen in den kommenden Jahren steigen werden. Angesichts dieser Mammutaufgaben können und dürfen wir das Land nicht alleine lassen, sondern müssen uns weiter mit Bedacht dafür einsetzen, dass die Menschen vor Ort eine Perspektive und Zukunft erhalten.
Lassen Sie mich nun noch einen Blick auf die Zahlen des vergangenen Jahres werfen. Dank der großen Solidarität unserer Spenderinnen und Spender, wie auch der öffentlichen Geldgeber konnten wir im vergangenen Jahr 622 Projekte in 78 Ländern finanzieren. Mehr als 70 % der Projekte umfasste dabei die Hilfe nach Naturkatastrophen und Kriegen. Die restlichen knapp 30 % machten soziale Projekte für Kinder sowie alte, kranke und behinderte Menschen aus. Die Verwaltungskosten lagen bei sehr niedrigen 7,96 %.
An Spenden und Zuschüssen sind Caritas international im vergangenen Jahr 77,57 Mio. € anvertraut worden. 26,78 Mio. € dieser Gesamteinnahmen stammen von privaten Spendern. Angesichts der Tatsache, dass wir im vergangenen Jahr glücklicherweise mit keiner Großkatastrophe zu tun hatten, ist dies ein außerordentlich erfreuliches Ergebnis, für das wir unseren Unterstützerinnen und Unterstützern sehr dankbar sind. An öffentlichen Zuschüssen und Kirchensteuermitteln standen uns 47,43 Mio. € zur Verfügung. Weitere Details finden Sie auf den Seiten 36 - 42 des Jahresberichtes, der sich in ihrer Pressemappe befindet.
Herr Dr. Müller wird Ihnen nun unter anderem von unserem Engagement in Nordkorea berichten, wo wir uns im Mai gemeinsam vor Ort einen Eindruck von der humanitären Lage verschaffen konnten. Ein Land, wo aus ganz anderen Gründen, die Umstände unserer Hilfe ähnlich schwierig sind wie in Afghanistan. Wo wir es aber ebenfalls als unsere christliche Verpflichtung ansehen, die Schwächsten der Gesellschaft zu stärken. Egal unter welchem Regime und welchen Bedingungen sie leben müssen - zumal wir dort als eine der ganz wenigen internationalen Organisationen die Möglichkeit haben, dort aktiv zu sein. Übrigens auch ungeachtet der Tatsache, dass in beiden Ländern so gut wie keine Christen leben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Prälat Dr. Peter Neher
Präsident des Deutschen Caritasverbandes