"Es darf keinen Ort geben, an dem die Hoffnung erlischt“
Herr Müller, 100 Jahre Auslandshilfe, wann haben Sie eigentlich zum ersten Mal mitbekommen, dass die Caritas nicht nur in Deutschland hilft?
OLIVER MÜLLER: Im Februar 1991, also vor ziemlich genau 30 Jahren. Obwohl ich damals schon eine ganze Weile in Freiburg studiert hatte und mich auch für kirchliche internationale Zusammenarbeit interessierte, muss ich gestehen, dass ich davor noch nicht davon gehört hatte.
Erstaunlich, dass Sie dieses Datum so genau benennen können.
MÜLLER: Nicht wirklich, denn der Februar 1991 datiert auch den Beginn meiner Zeit bei Caritas international. Ich habe während meines Studiums als freier Journalist gearbeitet und wurde damals gefragt, ob ich nicht in der Öffentlichkeitsarbeit aushelfen könne. Darüber lernte ich das Hilfswerk kennen und war sofort von dem Geist, der innerhalb des Hauses herrschte, so begeistert, dass ich im Jahr darauf richtig einstieg.
Was genau hat Sie so fasziniert?
MÜLLER: Das gleiche, was mich bis heute beeindruckt. Dass wir fast überall auf der Welt gemeinsam mit unseren lokalen Partnern Menschen helfen können. Außerdem prägt gerade die Not- und Katastrophenhilfe einen offenen Geist, der einen immer wieder dazu bringt, sich auf ganz neue Wege und unkonventionelle Lösungen einzulassen. Vor genau 100 Jahren suchten Ihre Vorgänger zum ersten Mal nach neuen Wegen, um Hungernden in Russland beizustehen.
Wurde im Rahmen der damaligen Aktion „Brüder in Not“ anders geholfen als heute?
MÜLLER: Ja und nein. „Brüder in Not“ war eine Solidaritätsaktion, die dem Geist der damaligen Zeit entsprach und die viele Menschen vor dem Hungertod gerettet hat. Dass es damals, über die eigenen Grenzen hinweg, eine Art moralische Verpflichtung gab, Hungernden in Russland zu helfen, ist beachtlich.
Schließlich herrschte auch in Deutschland noch vielerorts Armut. Und jenseits dieser Solidarität?
MÜLLER: Würde man aus heutiger Sicht kritisieren, dass sich die Unterstützung ausschließlich an die deutsche Minderheit in Russland richtete. So etwas würden wir heutzutage unter keinen Umständen mehr akzeptieren. Es gehört längst zu unserem Selbstverständnis und auch zu unserer DNA, dass wir allen Menschen, die in Not sind, gleichermaßen helfen. Unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Staatsangehörigkeit oder anderen Unterscheidungsmerkmalen.
Hunger ist bis heute eines der großen Themen in der humanitären Hilfe. Wie kann das sein, 100 Jahre nach der Gründung, im Jahr 2021?
MÜLLER: Leider führt vor allem die steigende Zahl an Konflikten dazu, dass Menschen auch heutzutage hungern müssen. Das ist, man kann es nicht anders sagen, beschämend für die Weltgemeinschaft. Auf der anderen Seite haben wir auch große Fortschritte gemacht. In vielen Ländern Afrikas ist die Kindersterblichkeit deutlich gesunken, in Ostafrika gibt es immer weniger Hungerkrisen, etwa weil Hilfsorganisationen wie wir Wasserrückhaltebecken gebaut und so die Menschen in die Lage versetzt haben, Dürren zu trotzen.
Dennoch steigt durch den Klimawandel die Zahl an Naturkatastrophen enorm an.
MÜLLER: Ja! Und meist trifft es arme Menschen und die, die am gesellschaftlichen Rand leben, am härtesten. Idealerweise können wir hier jedoch Vorsorge treffen oder gemeinsam mit den Betroffenen alles wieder so aufbauen, dass es den Menschen nach der Katastrophe besser geht als zuvor.
Und bei Konflikten oder Kriegen?
MÜLLER: Das schmerzhafteste, was ich erlebt habe, ist zu sehen, wie Menschen anderen Menschen Leid antun. Was mich stark geprägt hat, war eine meiner ersten Dienstreisen 1994 in das damalige Zaire, heute Ostkongo. Vor wenigen Tagen habe ich beim Stöbern in meinem Büroschrank eine Newsweek-Ausgabe von damals gefunden. Auf dem Titelbild stand: Hell on earth. Und ja, es war tatsächlich die Hölle auf Erden. Eine Million Menschen flohen damals vor dem Genozid in Ruanda, kurz vor meiner Ankunft war die Cholera ausgebrochen, es starben Tausende von Menschen. Die Ohnmacht, die ich damals erlebt habe, dass nicht geholfen werden konnte, dass Menschen aus bloßem Mangel an sauberem Wasser gestorben sind, das war wirklich alarmierend und hat mich gelehrt, dass wir so etwas nie wieder zulassen dürfen, dass es notwendig ist, frühzeitig zu intervenieren, um helfen zu können.
Wie bewahrt man sich angesichts dessen den Optimismus, dass sich Dinge zum Guten wenden?
MÜLLER: Alle, die bei Caritas international arbeiten, haben schon viel Not und Leid in ihrem Leben gesehen. Was wir aber auch sehen, ist, dass wir durch das Vertrauen unserer Spenderinnen und Spender handeln können. Die Chance, gemeinsam mit den Betroffenen etwas ändern zu können, die positiven Aufbrüche zu erkennen, Menschen zu befähigen, ihre Lage zu verbessern – darum geht es! Dass Familien, die vertrieben wurden, wieder ein Zuhause finden, dass Jugendlichen eine Berufsausbildung ermöglicht wird, all das ist doch sehr motivierend und bewahrt uns davor, uns dem Leid zu ergeben oder daran zu verzweifeln.
Gelingt Ihnen das auch bei Langzeit- Katastrophen wie etwa in Syrien, Irak oder Afghanistan?
MÜLLER: Ja, unbedingt! Obwohl das schon Kontexte sind, die auch mich manchmal nachdenklich werden lassen. Wenn uns zum Beispiel, wie in Syrien, nichts anderes übrigbleibt, als für das bloße Überleben der Menschen zu kämpfen. Für die Syrerinnen und Syrer, ist das eine absolute Katastrophe. Ein Lichtblick ist da schon, dass wir Kindern, die seit Jahren keine Schule mehr besucht haben, ein wenig Bildung ermöglichen. Für mich gehört ein gewisser christlicher Optimismus dazu, um sagen zu können: Nein, es darf keinen Ort geben, an dem die Hoffnung erlischt. Das Leben ist stärker als der Tod. Dafür setzen wir uns mit ganzer Kraft ein.
Hilft Ihnen dabei auch Ihre Erfahrung? Sie haben vorhin Ruanda erwähnt. Damals gab es dort Tod und Vertreibung, heute gilt das Land, trotz einer sehr autoritären Regierung, als afrikanischer Vorzeigestaat.
MÜLLER: Ja, das stimmt. Manchmal gibt es Verbesserungen, die man zuvor kaum für möglich gehalten hätte. Dabei zeigt sich: Wirkliche Entwicklung kommt von unten. Somit ist eine Lehre aus 100 Jahren Auslandshilfe: Wo Frieden herrscht, können auch in armen Ländern die Lebensbedingungen oft deutlich verbessert werden. Dafür braucht es aber einen langen Atem und die Bereitschaft, nicht für, sondern mit den betroffenen Menschen an einer Lösung der Probleme zu arbeiten.
Das Gespräch führte Sven Recker, Pressereferent bei Caritas international.