MEAL ist ein geflügelter Begriff in der humanitären Hilfe und in unserer Arbeit. Was bedeutet er?
Volker Gerdesmeier: MEAL steht für vier englische Begriffe: monitoring, evaluation, accountability und learning. Auf Deutsch kann man das grob so übersetzten: Überprüfen, Evaluieren, Rechenschaft ablegen und Lernen. Im Kern geht es also darum, während eines Projektes regelmäßig den Stand der Umsetzung zu überprüfen (monitoring) und am Ende auszuwerten, ob wir die Ziele erreichen, die wir uns bei einem Hilfsprojekt gesteckt haben (evaluation). Daraus zu lernen (learning) ist die Grundlage dafür, unsere Arbeit zukünftig weiter zu verbessern. Denn über unserer Arbeit müssen und wollen wir Rechenschaft ablegen (accountability) – gegenüber unseren Geldgebern, aber auch gegenüber den Menschen, die wir mit unseren Projekten unterstützen. Es ist ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit, allen Beteiligten zu erklären, warum wir ein Projekt machen und welche Ziele wir damit verfolgen. Wenn wir eine Evaluierung durchführen, fragen wir - wenn immer möglich - nach der Meinung der Betroffenen, diskutieren mit ihnen und hören uns ihre Verbesserungswünsche an.
Wie läuft eine Erhebung konkret ab?
Gerdesmeier: Ein Beispiel aus der Praxis: In Afrika führen Gewaltkonflikte oder Naturkatastrophen wie Dürren oder Tropenstürme häufig zu großen Vertreibungswellen. Deswegen richten sich unsere Hilfsprojekte dort vor allem an Menschen, die in ihrem eigenen Land auf der Flucht sind. Sie haben kein Zuhause mehr und oft tagelang nichts zu Essen. Das wollen wir ändern. Also verteilen wir, sagen wir Lebensmittel, sagen wir für vier Monate. Das erklärte Ziel einer solchen Hilfsaktion kann sein, dass die Geflüchteten zweimal pro Tag zu Essen haben – anstatt, wie vorher, nur einmal am Tag oder auch mehrere Tage gar nicht. Damit wir überprüfen und auswerten können, ob wir dieses Ziel erreichen, müssen wir zu Beginn und zum Ende der Nahrungsmittelverteilung Daten erheben. Dafür fahren wir in die Flüchtlingslager und befragen die Leute. Fragen können sein: ‚Wie oft esst ihr am Tag?‘ Oder: ‚Welche Lebensmittel habt ihr gegessen – war eure Ernährung ausgewogen?‘
Welche Gruppen dabei vor allem befragt?
Gerdesmeier: Wir achten bei unseren Befragungen sehr genau auf eine aussagekräftige Stichprobe. Das heißt, wir interviewen nicht nur Gemeindevorsteher oder Männer im Allgemeinen, sondern auch Frauen, Jugendliche und andere vulnerable Gruppen. Klar ist es eine Herausforderung, ehrliche Antworten zu bekommen, beispielsweise weil die Leute in ihrer Not dazu neigen, Verbesserungen herunterzuspielen. Subjektive Empfindungen sind nicht immer objektiv belegbar und kulturelle, sprachliche und soziale Hindernisse müssen überwunden werden. Aber wir haben gut erprobte, partizipative Methoden, um die Diskussion anzuregen. Wir benutzen zum Beispiel Bilder, um unsere Fragen zu visualisieren. So können auch Analphabeten an der Befragung teilnehmen. Es macht Sinn, dass hauptsächlich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unserer Partnerorganisationen die Befragungen durchführen. Sie kennen den Kontext und die Menschen vor Ort besser als wir, können die Aussagen besser einordnen und gegenchecken. Wir stehen ihnen aber jederzeit beratend zur Seite, schulen sie in den MEAL-Methoden, und kommen regelmäßig vorbei, um die Ergebnisse der Evaluierung zu besprechen und methodische Tipps zu geben. Wichtig ist, auch unseren Projektpartnern gegenüber, Vertrauen zu schaffen. Es geht darum, ihre Arbeit zu benoten, sondern gemeinsam zu lernen. Die Kontexte, in denen unsere Partnerorganisationen arbeiten, sind nicht selten chaotisch und herausfordernd. Da brauchen sie keine Belehrungen von uns.
Wie viele Projekte überprüft Caritas international auf diese Weise im Jahr?
Gerdesmeier: Ich kann ich nur für meinen Bereich sprechen, das Afrika-Referat von Caritas international. Wir haben circa 55 Partnerorganisationen in Afrika, mit denen wir in 20 Ländern zusammenarbeiten. Von den großen Hilfsprojekten, die sie gerade durchführen, evaluieren wir im Schnitt sechs pro Jahr. Dazu kommen Erhebungen zu Projektbeginn, sozioökonomische Studien, angewandte Forschungen und weiteres. Von diesen offiziellen und zeitaufwändigen Studien abgesehen, stehen wir natürlich andauernd in engem Kontakt mit unseren Partnern und checken, ob die Hilfsmaßnahmen wie geplant umgesetzt werden.
Was macht ihr, wenn ein Projekt nicht so läuft, wie es soll?
Gerdesmeier: Dann müssen wir aus unseren Erkenntnissen lernen und das Projekt anders aufziehen. Ein Beispiel: Am Tschadsee haben wir uns die Wiederaufforstung vorgenommen. Das heißt, wir haben versucht, Bäume in der Wüste zu pflanzen. In einer Evaluierung stellten wir dann aber fest, dass zu wenig Setzlinge die Wetterextreme überlebt haben. Also haben wir uns mit unseren Partnern und den Leuten im Dorf zusammengesetzt und miteinander überlegt, wie wir dem begegnen können. Das Ergebnis: Fortan pflanzen wir die Bäume nah an den Dörfern. Am besten in Nähe der Gemüsegärten oder umzäunter Felder, da die Leute diese ohnehin bewässern. So bekommen auch die Setzlinge ihre Portion Wasser ab und werden durch die Zäune vor Tieren geschützt. Dass unsere Fehleranalyse Früchte trägt, habe ich bei meinem letzten Besuch im Tschad gesehen. Auf dem Weg zu unserem Projekt bin ich lange durch karge Wüstenlandschaft gefahren, und plötzlich sah ich grüne Täler. Durch unsere Arbeit sind richtige Oasen entstanden. Solche Erfolge machen mich glücklich und zeigen mir: Wir müssen flexibel bleiben, unsere Konzepte und Methoden immer weiterentwickeln, kreativ sein und vor allem erstmal zuhören. Die von Krisen betroffenen Menschen haben oft gute Ideen, wenn es darum geht, ihre Zukunft zu sichern. Wir müssen auf sie hören und von ihnen lernen. Nur so werden wir noch besser in dem, was wir tun.
Projekte wie die Wiederaufforstung im Tschad laufen über Jahre. Dass man hier die Erfolge oder Misserfolge gut messen kann, leuchtet ein. Aber was ist in schnelllebigen Katastrophensituationen – bei Fluten, Erbeben, Wirbelstürmen? Wie misst man den Erfolg (oder Misserfolg) von Hilfsaktionen, wenn die Situation chaotisch ist?
Gerdesmeier: Klar, während Naturkatastrophen haben die Leute keine Zeit, sich lange und aufwändig befragen zu lassen. Aber auch in solchen akuten Krisensituationen müssen wir uns als professionelles Hilfswerk konkrete Ziele stecken und messen, ob unsere Nothilfe den gewünschten Zweck erfüllt. Unsere Stärke hierbei ist: Unser Partnernetzwerk ist groß. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind langfristig vor Ort und bleiben mit den Leuten in Kontakt, denen sie geholfen haben. Deswegen können wir die Evaluierung später nachholen. Nehmen wir als Beispiel den Tropensturm Idai in Mosambik, im Jahr 2019. Kurz nach der Verwüstung haben wir vor Ort Nothilfe geleistet: Lebensmittel verteilt, die Opfer psychosozial betreut, Notunterkünfte bereitgestellt. Als das Schlimmste vorbei war, sind wir aber nicht wieder abgefahren, so wie viele andere Hilfsorganisationen, sondern wir begannen, sturmsichernde Häuser zu bauen. Die Menschen, denen wir kurz nach dem Wirbelsturm geholfen haben, wohnen jetzt teilweise in diesen Häusern. Sie kennen die Caritas also heute immer noch. In Gesprächen mit ihnen können wir den Erfolg unserer Hilfen messen – damals wie heute.
In anderen Fällen arbeiten wir dort, wo die Leute herkommen oder nach einer Katastrophe hin fliehen. Das erleben wir beispielsweise in der Zentralafrikanischen Republik oder im Osten des Kongo. Die Caritas ist in diesen Ländern an mehreren Orten aktiv, weil die Not so groß ist und viele Vertreibungen geschehen. Wenn Menschen also beispielsweise wegen einer kriegerischen Auseinandersetzung von einem Gebiet in das andere fliehen, können wir trotzdem mit ihnen in Kontakt bleiben und sie zu unseren Hilfsmaßnahmen befragen, wenn wieder eine Evaluierung ansteht.
Mehr Hintergrundinformationen - einfach downloaden
- Sphere-Standards: Humanitäre Charta und Mindeststandards in der humanitären Hilfe
- Basic Principles of Development and Humanitarian Aid NGOs in the European Union
- Fachkonzept Wirkungsorientierung: Menschen in Not besser beistehen. Ein Fachkonzept von Diakonie Katastrophenhilfe und Caritas international
- Broschüre mit praktischen Beispielen der Wirkungsbeobachtung