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Ein Beitrag von Sven Recker
Pressereferent
10. Dezember 2024 / Lesedauer: 0 Minuten
Riesige Flutwellen haben im Süden Asiens tausende Menschen in den Tod gerissen…
Millionen Menschen sind obdachlos und auf der Flucht…
Die Wassermassen verwüsteten Küsten, zogen Menschen, Häuser, Autos ins offene Meer…
Liest, hört oder sieht man mit zwanzig Jahren Abstand die ersten Nachrichten vom zweiten Weihnachtstag des Jahres 2004, fällt vor allem eines auf: Das Wort, das sich in den kommenden Tagen bis heute weltweit ins kollektive Gedächtnis einbrennen sollte, fehlt: TSUNAMI, Hafenwelle auf japanisch, geprägt von Fischern, die nach ihrer Rückkehr vom Fang eine zerstörte Küste vorfanden, obwohl sie auf offener See keine Welle gesehen oder gespürt haben.
Die Welle, die am 26. Dezember des Jahres 2004 von einem Seebeben vor der Küste Indonesiens mit der Stärke 9,1 auf der Richterskala ausgelöst wurde, sahen und spürten Millionen von Menschen entlang der Küsten von Indonesien, Thailand, Indien, Sri Lanka und sogar in Kenia sofort. 231.000 Menschen starben, Hunderttausende wurden verletzt, 1.7 Millionen Küstenbewohner rund um den Indischen Ozean verloren ihr Zuhause, waren von einem Moment auf den anderen obdachlos.
Die Bilder der Welle gingen um die Welt. Schiffe, die weit im Landesinneren standen. Schuttberge, soweit das Auge reichte. Berge von Leichen, die nicht identifiziert werden konnten. Und immer wieder verwackelte Bilder von Wassermassen, die mit unfassbarer Geschwindigkeit ins Landesinnere flossen, oft von Urlaubern mit ihren Videokameras gefilmt, die eigentlich dafür vorgesehen waren, den über Weihnachten Daheimgebliebenen Bildern von Traumstränden zu zeigen. Stattdessen: Apokalyptische Aufnahmen wie aus einem Horror-Film. Und von nun an wochenlang täglich Nachrichten über die Flutkatastrophe, die Monsterwelle, kurz: den Tsunami - die verheerendste Naturkatastrophe der neueren Zeit.
Zahl der Opfer steigt täglich…
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Es gab aber auch viele Schlagzeilen wie diese:
Die Bereitschaft, den Opfern der Flutkatastrophe zu helfen, ist groß…
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Spenden-Hotline glüht…
So groß die Katastrophe, so groß war die weltweite Solidarität mit den Betroffenen des Tsunamis. Allein die Deutschen spendeten insgesamt rund 670 Millionen Euro, staatliche Hilfen nicht miteingerechnet. Nie zuvor und nie wieder danach war die Bereitschaft Menschen in Not beizustehen größer.
Zwei Jahre lang war ich damals für Caritas international in Südostasien und habe in verschiedenen Funktionen beim Wiederaufbau geholfen. Die meiste Zeit, habe ich in Sri Lanka verbracht, wo Caritas international allein im Großraum der Hauptstadt Colombo mehr als 2000 Häuser für die Betroffenen des Tsunami gebaut hat.
20 Jahre nach der Tsunami-Katastrophe sitze ich erneut in einem Flugzeug Richtung Colombo. Im Gegensatz zu den Tagen direkt nach dem Tsunami sind die meisten Sitze belegt. Entweder von Urlaubern oder von Frauen aus Sri Lanka, die in den Golfstaaten als Hausangestellte arbeiten und für einen Familienbesuch nach Hause fliegen.
Die Welt ist in den vergangenen zwanzig Jahren eine andere geworden. Die Zahl der Naturkatastrophen hat durch die Klimakrise stark zugenommen. (Allein in Deutschland gab es seit 2002 insgesamt vier so genannte "Jahrhunderthochwasser".) Die Zahl der kriegerischen Konflikte steigt kontinuierlich. Die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, hat sich auf 120 Millionen Menschen seitdem mehr als verdoppelt.
Was bedeutet das für die Heferinnen und Helfer von humanitären Hilfsorganisationen? Welche Lehren wurden aus der Tsunami-Katastrophe in Südostasien gezogen? Vor allem aber: Wie geht es den Menschen, die damals entlang der Küsten von Indonesien, Indien, Sri Lanka und Thailand alles verloren haben heute? Vereinfacht gesagt: Was haben die Hilfen gebracht? Und: Was ist aus der beispiellosen Solidarität mit den Betroffenen der Tsunami-Katastrophe geworden? Gibt es die noch? Brauchen wir wieder mehr davon?
Ich schaue auf den Indischen Ozean. Irgendwann höre ich die Durchsage: "Cabin crew, prepare for landing." Nur ein paar Minuten noch. Dann bin ich da.
Mein erster Weg in Colombo führt mich zu Father Jude, dem damaligen Direktor der Caritas Colombo. Wie fast immer, seit ich ihn kenne, treffe ich Father Jude an einem Schreibtisch an. Um sich herum Stapel von Dokumenten, Papieren, Notizen. Hinter ihm Bilder der geistigen Würdenträger, die er in seinem Leben getroffen hat. Klingt wenig spektakulär. Nicht so im Fall von Father Jude. Von seinem Platz hinter dem Schreibtisch hat er nicht nur das Leben vieler Menschen zum Besseren gewendet, er hat ihm, im wahrsten Sinne des Wortes, vor ein paar Jahren auch sein eigenes Leben gerettet.
Doch der Reihe nach. Als nach dem Tsunami die Welle der Hilfsbereitschaft Sri Lanka überrollte, als die Zahl der Hilfsorganisationen im Land sprunghaft nach oben schnellte, vor allem aber als auch entlang der Küstenregion rund um Sri Lankas Hauptstadt Colombo Tausende von Menschen nach dem Tsunami dringend neue Häuser, psychologische Unterstützung und sozialen Beistand benötigten, brauchte es einen wie ihn.
Jemanden, der in all dem Chaos den Kopf nicht verliert, der vom Schreibtisch aus die Hilfen koordiniert und trotzdem nah an den Menschen dran ist. Mit anderen Worten: Einen Manager, aber einen mit Herz.
Und so wie er jetzt hinter dem Schreibtisch im Pfarrbüro seiner Gemeinde in Colombo sitzt, könnte man meinen, es hätte sich seit damals nichts geändert und er wäre immer noch der Direktor der Caritas Colombo, der er damals war. Im Minutentakt klingelt sein Telefon. Den Tsunami, den er mittlerweile zu managen hat, ist leiser, kommt nicht mit einer Welle der Zerstörung, sondern schleicht sich Tag für Tag in das Leben der Menschen hinein und hört auf den Namen: Finanzkrise.
Das Viertel, in dem seine Gemeinde liegt, war noch nie reich, viele Menschen lebten hier schon immer in prekären Verhältnissen, zum Teil auch in slumähnlichen Behausungen. "Shanty people", sagt Father Jude, viele davon Teil seiner 1800 Familien umfassenden Gemeinde. Zu Hochzeiten der Finanzkrise organisierte er Essen für 2000 Menschen, noch immer kommen Woche für Woche 200 Kinder zum Mittagessen auf das Kirchengelände.
"Manchmal", sagt Father Jude, "wünsche ich mir, wir hätten heute die gleichen finanziellen Mittel wie damals nach dem Tsunami, könnten Häuser bauen, Schul- und Studienstipendien an Kinder ärmerer Familien vergeben und uns noch mehr um die sozialen Schwächeren kümmern.
Aber es ist, wie es ist. Schon wieder klingelt sein Telefon. Viel Zeit zum Grübeln bleibt ihm sowieso nicht. Wieviel Kontakte er in seinem Telefon hat? "No idea", keine Ahnung, sagt er, lacht und zeigt das Display seines Telefons. "Hier schau, alle, mit denen ich jemals in Kontakt war, sind hier gespeichert. Auch noch alle, die damals nach dem Tsunami mitgeholfen haben." Und dann beginnt er aufzuzählen, was aus wem geworden ist.
"Kennst du noch Razika aus Negombo? Hat seinen eigenen IT-Shop jetzt."
"Oder hier: Kevin. Der ist jetzt in Dubai und arbeitet für eine große Firma."
"Aber an Heshan kannst du dich noch erinnern. Der ist Anwalt geworden."
Und so geht es noch eine ganze Weile weiter bis wieder das Telefon klingelt und er ranmuss, weil jemand seine Hilfe braucht. Father Jude sagt, dass die Tsunami-Hilfen auch dafür verwendet worden sind Leute gut aus- und fortzubilden, so dass sie heute selbst für sich sorgen können, mache ihn besonders stolz. Und natürlich freut er sich jedes Mal, wenn er bis heute von Menschen angesprochen wird, denen die Caritas damals geholfen hat. "Für die bin ich bis heute der Tsunami-Pfarrer", sagt er.
Das Ereignis, dass ihn für kurze Zeit weltweit bekannt gemacht und bis in die CNN-Nachrichten gebracht hat, war allerdings ein anderes. Am Sonntag, den 21. April des Jahres 2019 erschütterte eine Serie von acht Bombenanschlägen Colombo und Umgebung. Ziel der mutmaßlich islamistischen Terrorattacke waren unter anderem Luxushotels und mehrere Kirchen. Insgesamt kamen 253 Menschen ums Leben. Viele davon starben in der Gemeinde in der Father Jude damals Priester war. Er selbst überlebte nur, weil er kurz vor dem Gottesdienst noch einmal an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war, um an seiner Predigt zu schleifen.
Letzte Frage Father Jude: Wo sollen wir denn gleich das Foto machen?
Seine Antwort: Bitte am Schreibtisch!
Noch am gleichen Tag mache ich mich auf nach Payagala, einem kleinen Fischerort, 80 Kilometer südlich der Hauptstadt Colombo. In Payagala hat die Caritas damals eines der ersten Tsunami-Büros eingerichtet, das als Anlaufstelle für die Betroffenen diente. Von hier aus wurde der Wiederaufbau von hunderten Häusern koordiniert, im Hinterhof hatten wir eine Schreiner-Werkstatt eröffnet, in der Türen und Fensterrahmen für die Häuser gezimmert wurden.
Als erstes treffe ich in Payagala den Fischer Joseph Shelton. Dort, wo früher einmal sein Haus stand, ist heute ein Schweinestall. "Das Leben nimmt, das Leben gibt", sagt er und hält der größten Sau in seinem Stall eine Handvoll Futter unter die Schnauze. Und das, was dem 63-jährigen Mann das Leben in den vergangenen 20 Jahren gegeben hat oder vielmehr das, was er daraus gemacht hat, ist nicht das Schlechteste. "Das Leben", sagt er, "ist gut."
Vor 20 Jahren, als er den Tsunami in Sri Lanka nur deshalb überlebt hat, weil er sich auf eine Palme gerettet hat, sah das noch ganz anders aus. Von der Spitze des Baumes musste er mitansehen, wie die Wassermassen alles zerstörten, was er sich bis dahin aufgebaut hatte. Sein Haus, sein Boot, seine Fischernetzte. Als dann auch noch die Regierung verfügte, dass dort, wo einst sein Haus stand, nicht neu gebaut werden dürfe, weil es so nah am Meer zu gefährlich wäre, wusste er kurz nicht weiter. Das Land, das ihm für ein neues Haus angeboten wurde, lag kilometerweit im Landesinneren. "Aber was hätte ich dort sollen?", fragt er. "Ich bin Fischer, ich gehöre ans Meer wie Fische ins Wasser.
Dass es nach dem Tsunami so viel Hilfsangebote wie nach keiner anderen Naturkatastrophe weltweit gab, war für Joseph Shelton Fluch und Segen zugleich. "Auf einmal", sagt er, "hatte damals jeder ein eigenes Boot, selbst die, die davor noch nicht als Fischer gearbeitet haben." Joseph Shelton sagt, das mache sich bis heute bemerkbar. "Es ist eine einfache Rechnung: Gleichviel Fisch für ungleich mehr Fischer ist gleich weniger Fang für jeden von uns."
Das Gute an der Sache mit der riesigen Solidarität mit den Betroffenen des Tsunami war, dass Gelder für Hilfen zur Verfügung standen, die in dieser Dimension sonst nicht möglich gewesen wären. Der Pfarrer der Gemeinde war in der Lage Land nah an der Küste zu kaufen. So nah, dass die Genehmigung darauf bauen zu dürfen gerade noch erteilt wurde. Das Land überschrieb er den Betroffenen, die Häuser darauf baute die Caritas unter Beteiligung der Familien, die durch den Tsunami ihr Zuhause verloren hatten.
Allein hier in Payagala entstanden so Häuser für mehrere hundert Familien. Begleitet wurde der Wiederaufbau durch zahlreiche soziale Angebote, die zum Ziel hatten, vereinfacht gesagt, die Lebensumstände der Menschen nachhaltig zu verbessern. Shriyani, die Frau von Joseph Shelton, beispielsweise war ein Teil einer Gruppe von Frauen, die damals formiert worden waren, um gemeinsam Geld zu sparen, dass dafür eingesetzt wurde Frauen der Gruppe in Notfällen finanziell zu unterstützen. Sei es, wenn dringend Geld für eine Operation gebraucht wurde, sei es, wenn es mit dem Schulgeld für die Kinder eng wurde oder auch um eine Anschaffung wie eine Nähmaschine zu finanzieren. Wann sich die Gruppe zuletzt getroffen habe? Kurz überlegt die heute 55-jährige, dann sagt sie: "Ich glaube, das war 2010 oder 2011." Im Gegensatz zu den Tsunami-Hilfen in Indien, wo die von der Caritas gegründeten Frauen-Gruppen sich bis heute gegenseitig unterstützen, existieren diese Gruppen in Payagala heute nicht mehr. Josef Shelton hat dafür eine einfache wie treffende Antwort: "Menschen sind Menschen", sagt er, "manche kümmern sich, manche eher nicht."
Zu welcher Sorte seine Frau und er gehören, gibt es keine Zweifel. Ihr Haus, das sie damals dank der Caritas in Küstennähe bekommen haben: Tiptop. Zwei Kinder haben sie darin großgezogen. Der heute 34-jährige Sohn und die nun 29-jährige Tochter leben in der Nachbarschaft. Zwei Zimmer haben sie selbst angebaut, der sandige Boden vor der Veranda ist akkurat gefegt und dann ist da ja noch die Sache mit den Schweinen. Zwei Ferkel hat Joseph Shelton nach dem Tsunami von einer Hilfsorganisation bekommen. Auf den Trümmern seines alten Hauses baute er einen Stall. Aus den zwei Schweinen sind mittlerweile 50 geworden, wenn er nicht gerade mal wieder eines verkauft. Die kleine Farm betreibt er gemeinsam mit seiner Frau. Jeden Mittag, wenn er vom Fischen zurückkommt, ist er dort, sein Boot liegt dann am Strand, gerade mal zwanzig Meter von den Schweinen entfernt. "Wenn du noch einmal einen Fischer findest, der gleichzeitig Schweinebauer ist", sagt er zum Abschied, "dann gib mir Bescheid. Soweit ich weiß, gibt es einen wie mich nur einmal."
Immer wieder muss ich seitdem an seinen Satz denken: "Menschen sind Menschen, manche kümmern sich, manche eher nicht." Ist es wirklich so einfach, die Lage 20 Jahre nach dem Tsunami zusammenzufassen? Ja und nein. Ja, weil die Häuser, die damals gebaut worden sind, alle noch stehen und die Familien noch bis heute darin leben. Wir Helfenden haben damals also eine Grundlage geschaffen, damit Familien wie die von Josef Shelton wieder in ihr Leben zurückfinden und sich eine neue Existenz aufbauen können. Wir haben Frauengruppen formiert, an denen auch die Frau von Joseph Shelton teilgenommen hat, wir haben Menschen nach dem Tsunami psychologisch unterstützt - wenn man so will, war all das eine Starthilfe zurück ins Leben. Wie die Menschen in Payagala oder in all den anderen vom Tsunami betroffenen Ländern diese genutzt haben, hatten wir nur noch bedingt in der Hand. Josef Shelton hat mithilfe der Caritas das Beste daraus gemacht, andere hatten es schwerer. Von daher stimmt der Satz, dass manche sich kümmern und andere nicht.
Gleichzeitig greift die Lebensweisheit des Fischers Joseph Shelton aber auch ein wenig zu kurz. Denn die meisten Probleme, die die Menschen, mit denen ich in Sri Lanka gesprochen habe, heute beschäftigen, können sie persönlich nicht beeinflussen: Die Finanzkrise in ihrem Land, das kurz vor dem Bankrott steht, und die dazu führt, dass sich die Preise für die täglichen Dinge des Lebens zum Teil verdreifacht haben. Die globale Schuldenkrise, die mit der Finanzkrise eingeht. Die Folgen von Corona, die bis heute zu spüren sind. Kurz, die ungleiche Verteilung von Wohlstand in der Welt. Oder, um es mit Joseph Shelton zu sagen: Global gesehen ist Luft nach oben, wenn es darum geht sich umeinander zu kümmern.