
Ein Beitrag von Dr. Bhoomikumar Jegannathan
Facharzt für Pädiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie
24. März 2025 / Lesedauer: 6 Minuten
Es gibt kein Medikament, das Autismus oder das Down-Syndrom "heilen" kann - auch wenn es bis heute Eltern gibt, die mit genau dieser Hoffnung zu mir kommen. Doch woran wir arbeiten können, sind die Barrieren, die Kindern mit Behinderung in den Weg gelegt werden. Wir Ärzte sind dabei wie Dirigenten eines Orchesters. Wir geben zwar den Takt vor - etwa mit der Diagnose eines Kindes oder medizinischen Empfehlungen. Aber unsere eigentliche Aufgabe ist es, alle Beteiligten in Einklang zu bringen: Therapeuten, Familien, Lehrpersonal, Behörden und die Gesellschaft als Ganzes. Nur wenn alle gut zusammenspielen, kann das Kind die bestmögliche Entwicklung erfahren.
Auf diesem ganzheitlichen Verständnis basiert auch das CCAMH (Centre for Child and Adolescent Mental Health), das ich seit rund 30 Jahren leite. Es ist die einzige Einrichtung in ganz Kambodscha für Kinder mit neurologischen Behinderungen, Lernschwierigkeiten und psychischen Problemen. Schon bei der Gründung war klar, dass es mehr sein sollte als eine Tagesklinik in der Hauptstadt Phnom Penh. Es galt, Knotenpunkt eines Hilfsnetzes zu werden, das bis in die entlegensten Regionen des Landes reicht.
Aber warum trägt eine einzige Institution eine so große Verantwortung? Um das zu verstehen, müssen wir einen Blick in die jüngere Geschichte Kambodschas werfen. Vor rund 50 Jahren, zwischen 1975 und 1979, errichteten die Roten Khmer unter Pol Pot eines der grausamsten Regime des 20. Jahrhunderts. Ihr Ziel war eine radikale Agrargesellschaft, in der Städte entvölkert, Privateigentum abgeschafft und jeglicher intellektuelle Einfluss ausgelöscht werden. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen - fast ein Viertel der Bevölkerung - starben durch Zwangsarbeit, Hunger, Krankheiten oder Hinrichtungen. Akademiker wurden gezielt verfolgt, Schulen und Universitäten zerstört, um Wissen und kritisches Denken auszulöschen.
Dr. Bhoomikumar Jegannathan bei der Durchführung eines Screenings im Dorf Kos Ras Leu, Kambodscha. Schwangere und stillende Frauen werden auch auf Eisen- und Jodmangel untersucht, da dies die Entwicklung des ungeborenen Kindes beeinträchtigen kann.Foto: Bente Stachowske / Caritas international
Eine Vergangenheit, die nachwirkt
Die Folgen sind bis heute spürbar. Noch immer fehlt es vor allem in ländlichen Regionen Kambodschas an Ärzten, Therapeuten und Lehrkräften. Gleichzeitig herrschen gerade dort Lebensbedingungen, die das Risiko für Behinderungen erhöhen. In der Nachkriegszeit haben sich sowohl das staatliche Gesundheitssystem als auch internationale Organisationen vor allem auf Landminenopfer konzentriert. Wir haben eine wichtige Rolle dabei gespielt, dies zu ändern. Wir verweisen auf Fälle von frühkindlichen Hirnschäden, die auf mangelnde Geburtshilfe und Sauerstoffmangel während der Geburt zurückzuführen sind. Wir sind konfrontiert mit kognitiven Behinderungen, die durch Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und Masern verursacht werden, weil Impfungen oder Medikamente fehlen. Hinzu kommt die schlechte Ernährungslage, vor allem in ärmeren Teilen der Bevölkerung. Bei werdenden Müttern führt sie oft zu einem Mangel an Mikronährstoffen wie Eisen und Jod, die für die Entwicklung des kindlichen Gehirns besonders wichtig sind.
In dieser Mangelsituation übernehmen wir als CCAMH eine Verantwortung, die weit über die eines gewöhnlichen medizinischen Zentrums hinausgeht. Dazu gehört, dass wir mehrmals pro Woche in neue Dörfer fahren, um dort Sprechstunden abzuhalten. Wir schauen, wie es den Kindern und Jugendlichen gesundheitlich geht, informieren sie und ihre Eltern über Impfungen und verschreiben bei Bedarf Medikamente, Nahrungsergänzungsmittel oder Entwurmungsmittel. Bei Verdacht auf eine Behinderung nehmen wir Kontakt mit den Eltern, Geschwistern und Großeltern auf, um die Situation und mögliche Hilfen zu besprechen.
Eltern von Kindern mit Behinderungen müssen viele Dinge gleichzeitig tun: für ihr Kind da sein, für die Therapie sorgen, den Lebensunterhalt verdienen und für die Integration kämpfen. Die CCAMH-Elterngruppen unterstützen sie bei dieser Mammutaufgabe.Foto: Bente Stachowske / Caritas international
Unverzichtbar: Die Eltern
Wenn ich ein Kind in einer Sprechstunde kennenlerne, ist das nur ein kurzer Moment, ein winziger Ausschnitt aus seinem Leben. Ganz anders die Eltern: Sie kennen ihr Kind von Geburt an, begleiten es Tag und Nacht. Ihnen müssen wir als Ärzte gut zuhören, sie sind die wahren Experten und die wichtigste Stütze im Inklusionsprozess. Aber gleichzeitig sind es auch die Eltern, die an der Grenze ihrer Belastbarkeit stehen. Sie jonglieren zwischen Erwerbsarbeit, der Betreuung von Geschwisterkindern und der intensiven Fürsorge für ihr Kind mit Behinderung. Dazu kommt die gesellschaftliche Stigmatisierung, die auch in der Sprache tief verankert ist: Das kambodschanische Wort für Epilepsie "Chikoot-chiruk" bedeutet so viel wie "Schweinewahnsinn".
Neben einer fundierten Diagnose in unserem Zentrum und gezielten therapeutischen Empfehlungen braucht es weit mehr, um Kinder mit Behinderungen und ihre Familien nachhaltig zu unterstützen. Es braucht Strukturen, die Eltern auffangen, sie stärken und ihnen zeigen: Ihr seid nicht allein. Genau hier setzen unsere Parents Support Groups an. Sie bieten einen sicheren Raum und ein soziales Auffangnetz, in dem sich Eltern austauschen, gegenseitig unterstützen und gemeinsam Lösungen für die Herausforderungen des Alltags finden können.
Unverzichtbare Alltagshelfer_innen
Begleitet werden die Elterngruppen dabei von den Freiwilligen für kindliche Entwicklung - meist eine Frau und/oder ein Mann pro Dorf. Diese werden vom Staat unterstützt und regelmäßig in unserem Zentrum fortgebildet. Ihre Ausbildung konzentriert sich auf praktische Fragen, die für das tägliche Leben der Familien wichtig sein können: Wie gehe ich mit einem autistischen Kind um, das sich schwer tut mit der Kommunikation? Wie füttere ich ein Kind mit zerebraler Lähmung, das Probleme beim Schlucken hat? Wie leite ich es an und ermutige es, selbstständig zur Toilette zu gehen? Wie helfe ich einem Kind mit kognitiver Behinderung sich selbst anzuziehen? Die Freiwilligen sind weit mehr als nur Vermittler. Durch regelmäßige Hausbesuche sorgen sie dafür, dass Eltern zu Hause schnell und niedrigschwellig Unterstützung erhalten. Sie organisieren inklusive Spielgruppen, um alle Kinder der Gemeinde zusammenzubringen. Und sind unsere direkten Ansprechpartner in den Dörfern, etwa wenn es darum geht, die Screenings vorzubereiten. Gleichzeitig pflegen sie einen engen Kontakt zu den örtlichen Basisgesundheitszentren, um die medizinische Versorgung sicherzustellen.
Während die Freiwilligen für kindliche Entwicklung Familien den Weg zu professionellen Unterstützungsstrukturen ebnen, übernehmen die Kindergesundheitsbotschafter diese Rolle innerhalb der eigenen Familie. Sie sind meist Geschwister von Kindern mit Behinderungen, die lernen, wie sie ihren Bruder oder ihre Schwester zum Beispiel durch einfache motorische Übungen oder kleine gemeinsame Spieleinheiten fördern können. Viele Kindergesundheitsbotschafter werden auch zu Schlüsselpersonen für die Nachbarschaft. Sie sind oft die ersten, die auf weitere Kinder mit Entwicklungsstörungen aufmerksam machen und Familien ermutigen, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
sind wichtige Berater_innen in Fragen wie Ernährung und Unabhängigkeit des Kindes. Und sie sind enge Wegbegleiter für Kinder mit Behinderungen.
Foto: Bente Stachowske / Caritas international
Selbstvertretung als Schlüssel zu Inklusion
Ein weiterer Bestandteil unseres Unterstützungsnetzwerks sind die Selbsthilfegruppen, die Caritas Siem Reap ins Leben gerufen hat. Die inklusiven Gruppen, von denen fast die Hälfte von Menschen mit Behinderungen geleitet wird, verfolgen einen rechtebasierten Ansatz: Die Mitglieder unterstützen sich gegenseitig bei der Beantragung von Sozialleistungen, führen eigene Spar- und Kleinkreditprogramme durch, werden in Führungs-, Mediations- und Advocacy-Fähigkeiten geschult und organisieren Treffen mit Regierungsvertretern. In enger Zusammenarbeit mit Regierungsstellen tragen sie dazu bei, Menschen zu stärken und Inklusion zu fördern. Doch ganz gleich wie vielfältig unser "Orchester" auch ist, was passiert, wenn es an Dirigenten fehlt?
Strukturelle Herausforderung: Fachkräftemangel
In vielen Krankenhäusern und Basisgesundheitsstationen des Landes fehlt es an Ärzten und Pflegekräften mit spezialisiertem Wissen über Behinderungen und deren Diagnostik. Auch Ergo- und Logopäden, Physiotherapeuten und Sozialarbeiter sind rar und es gibt keine Ausbildungsprogramme im Land. Um dieser Tatsache zu begegnen, hat sich das CCAMH über die Jahre weiterentwickelt. Heute sind wir nicht nur ein Behandlungszentrum, sondern auch eines für Personalentwicklung, Forschung und Kapazitätsaufbau. In Zusammenarbeit mit renommierten Institutionen und Universitäten in Indien, Deutschland, Norwegen, Singapur, Schweden, Großbritannien und den USA bilden wir Ärzte, Pflegepersonal und Sozialarbeiter in Gesundheitszentren und Krankenhäusern in der medizinischen Versorgung von Kindern mit kognitiven, psychischen und neurologischen Entwicklungsstörungen weiter.
Ein landesweiter Standard für Basisgesundheitszentren
Durch intensive Lobbyarbeit ist es uns gelungen, die psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen in das Gesundheitssystem der Provinz Kampong Cham zu integrieren. Aufbauend auf diesen Erfahrungen arbeiten wir daran, ein Mindestpaket an Dienstleistungen auf alle 1.220 Basisgesundheitszentren des Landes auszudehnen. Konkret bedeutet dies, dass das Personal in jedem Zentrum nicht nur in der Lage sein muss, kognitive Behinderungen durch ein Neugeborenen-Screening zu diagnostizieren, sondern auch Psychoedukation anzubieten und bei Bedarf Überweisungen vorzunehmen. Dass diese Grundversorgung staatlich finanziert ist, verleiht der Maßnahme eine besondere Nachhaltigkeit - ein wichtiger Schritt hin zu einer langfristig besseren medizinischen Versorgung für Kinder mit Behinderungen. Allerdings braucht es dazu noch viel politischen Willen und erhebliche finanzielle Mittel.
Viele Fachkräfte denken, der Erfolg liege darin, das jeweilige gesundheitliche Problem der Klienten in den Griff zu bekommen. Und ja, wenn wir bei einem kleinen Patienten mit Epilepsie die Zahl der Anfälle deutlich verringern können, ist das ein Erfolg. Aber es noch lange nicht das Ende unseres Auftrags. Das Kind muss auch eine Schule besuchen können, Freunde finden, spielen dürfen. Inklusion bedeutet so viel mehr als medizinische Versorgung. Erfolgreich war unsere Arbeit, wenn Kinder mit Behinderung zu Menschen heranreifen, die selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sind. Wenn sie selbstbestimmt und unabhängig Entscheidungen für ihr eigenes Leben fällen können und wie alle anderen zur Entwicklung der Gemeinschaft beitragen.
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