"Wir fordern echte Arbeitsplätze" - für Menschen mit Behinderung
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Eglal Chenouda,
Geschäftsführerin SETI/Caritas Ägypten

Dr. Madlin Sabry Azmy Ghobrial
Direktorin des SETI Center/Caritas Ägypten
CARITAS INTERNATIONAL: Frau Dr. Sabry, Frau Chenouda, in Ägypten gibt es ein Gesetz, das Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitenden verpflichtet, mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen zur Verfügung zu stellen. Das müsste doch in Ihrem Sinne sein?
MADLEINE SABRY: Nicht ganz. Der Anteil der Menschen mit Behinderung in Ägypten liegt bei zehn Prozent. Dann sollten auch zehn Prozent der Arbeitsplätze für sie zur Verfügung stehen. Noch viel wichtiger als das Gesetz ist allerdings die Frage, wie gut es umgesetzt wird.
Frau Chenouda, wie sieht die Umsetzung in der Praxis aus?
EGAL CHENOUDA: Mehr schlecht als recht. Nach unseren Schätzungen beschäftigen weniger als 20 Prozent der ägyptischen Unternehmen Menschen mit Behinderungen, wobei Menschen mit motorischen oder sensorischen Beeinträchtigungen, also Seh- oder Hörbehinderungen eher eingestellt werden als Menschen mit kognitiven Behinderungen. Und das, obwohl Studien der American University in Kairo zeigen, dass die Zahl der Menschen mit geistigen Behinderungen in Ägypten dreimal so hoch ist wie die Gesamtzahl der Menschen mit motorischen und sensorischen Behinderungen.
SETI bereitet Jugendliche auf die Realität des Arbeitslebens vor und vermittelt sie an Unternehmen.Foto: SETI Center, Ägypten
Wie gelingt es den Unternehmen, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen?
SABRY: Die Umsetzung des Gesetzes wird vom Staat nicht ausreichend nachgehalten. Wenn Arbeitsinspektoren ein Unternehmen besuchen, werden ihnen oft gefälschte Dokumente vorgelegt, die belegen sollen, dass genügend Menschen mit Behinderung beschäftigt werden. Kontrolliert wird das so gut wie nie.
Heißt das, dass die Papiere gefälscht sind?
CHENOUDA: Nicht wirklich. Menschen mit Behinderungen erhalten formelle Verträge mit vollem - wenn auch minimalem - Lohn. Aber viele Unternehmen verlangen nicht, dass sie zur Arbeit kommen. Sie denken, dass sie mit der Einstellung ihre Pflicht erfüllt haben und wollen sich den Aufwand einer Einarbeitung am Arbeitsplatz sparen. Für die Unternehmen ist das eine Win-Win-Situation: Sie vermeiden hohe Geldstrafen, die mit jeder unbesetzten Stelle steigen, und meinen gleichzeitig der Person mit Behinderung etwas Gutes zu tun. Leider sehen auch einige Menschen mit Behinderungen darin einen guten Weg: Sie bekommen ein Gehalt, ohne pendeln und arbeiten zu müssen. Aber für uns und für die meisten jungen Menschen mit Behinderung ist das eine krasse Diskriminierung. Sie wollen keine Scheinjobs auf dem Papier, sie wollen echte Möglichkeiten, sich zu beweisen und erfolgreich zu sein.
Das bedeutet, dass viel Überzeugungsarbeit geleistet werden muss, um echte Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen?
SABRY: Ja, absolut. Die Familien, vor allem die von jungen Frauen und Mädchen mit Behinderung, sind in der Regel sehr vorsichtig. Viele befürchten, dass ihre Töchter belästigt oder gar missbraucht werden könnten, sei es am Arbeitsplatz oder auf dem Weg dorthin. Um diesen Ängsten entgegenzuwirken, haben wir in unsere Berufsausbildung ein spezielles Modul zum Thema Schutz und Selbstvertretung aufgenommen. Wir vermitteln jungen Menschen mit Behinderungen, wie sie potenziell gefährliche Situationen wie sexuelle Belästigung erkennen und darauf reagieren können.
Sind das nicht auch sehr berechtigte Ängste?
SABRY: Wir nehmen das sehr ernst und arbeiten eng mit den Familien zusammen, um praktische Lösungen zu finden. Wenn das Unternehmen keine Transportmöglichkeiten anbietet, suchen wir nach Beschäftigungsmöglichkeiten im Bezirk der Familie. In manchen Fällen begleiten wir Mutter und Kind auf Probefahrten, um Ängste ab- und Vertrauen aufzubauen.
CHENOUDA: Wir bereiten sowohl Mitarbeitende mit Behinderungen als auch ihre zukünftigen Kollegen auf ein inklusives Arbeitsumfeld vor. Die Probezeit, die ein wichtiger Bestandteil unserer Programme ist, spielt eine entscheidende Rolle beim Abbau gegenseitiger Ängste und Unsicherheiten.
Wie überzeugen Sie die Unternehmen, mitzumachen?
CHENOUDA: Das ist oft ein langwieriger Prozess. Wenn wir zum ersten Mal Kontakt aufnehmen, hören wir oft so etwas wie: "Ja, ja, schicken Sie einfach ein paar Leute vorbei, dann sehen wir, was wir tun können." Das ist in der Regel gut gemeint, aber es zeigt, dass es an echtem Engagement oder Verständnis dafür fehlt, was Inklusion wirklich bedeutet.
SABRY: Hier setzen wir an. Wir schicken nicht einfach Leute hin - wir fragen die Unternehmen, welche Stellen sie zu besetzen haben und wo sie ungedeckte Bedarfe sehen. Das überrascht sie oft, weil viele Inklusion immer noch für eine Wohltätigkeitsveranstaltung halten. Aber wir bestehen darauf: Inklusion ist keine Wohltätigkeit. Wir fordern echte Arbeitsplätze, an denen Menschen mit Behinderungen einen echten Beitrag leisten, sich weiterentwickeln und als Mitarbeitende geschätzt werden können.
Warum ist es so schwierig, Menschen mit Behinderungen echte Arbeitsplätze zu verschaffen?
SABRY: Die meisten Menschen, die wir bei der Arbeitssuche unterstützen, haben kognitive Behinderungen, und leider sind die Vorurteile ihnen gegenüber viel größer als gegenüber Menschen mit körperlichen Behinderungen. Viele Arbeitgeber glauben einfach nicht, dass Menschen mit Autismus oder Down-Syndrom zur Produktivität ihres Unternehmens beitragen können. Ein weit verbreitetes, fast absurdes Vorurteil, das wir hören, lautet: "Die machen unsere Maschinen kaputt!" Das zeigt, wie viele Fehlinformationen und Ängste es immer noch gibt.
Wie gehen Sie mit diesen Vorurteilen um?
CHENOUDA: Das ist ein Prozess, an dem sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer beteiligt sind. Bei den Arbeitnehmern setzen wir früh an. Unser Programm zur beruflichen Rehabilitation nimmt Jugendliche ab 15 Jahren auf und bereitet sie auf die Realität des Arbeitslebens vor. Es geht um die Grundlagen: Warum ist Pünktlichkeit wichtig? Wie plane ich meinen Weg zur Arbeit? Was ist angemessene Arbeitskleidung? Wie verhalte ich mich gegenüber Kollegen und Vorgesetzten? Außerdem beschäftigen wir uns mit den Zielen. In welchem Beruf sehen sie sich? Passen ihre Fähigkeiten und Stärken dazu?
SABRY: Die Eltern spielen in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Wenn sie die beruflichen Ambitionen ihres Kindes unterstützen, werden sie zu wichtigen Verbündeten. Ihr Vertrauen in den Prozess kann einen echten Unterschied machen - manchmal öffnet es sogar Türen. In vielen Familien arbeiten Verwandte in verschiedenen Unternehmen, und diese persönlichen Verbindungen, das Vitamin B, können helfen, Barrieren abzubauen.
Gibt es Branchen, in denen die Jobvermittlung tendenziell besser funktioniert?
CHENOUDA: Überhaupt nicht. Wir sprechen Unternehmen aus allen Branchen an, denn Jugendliche mit Behinderung sind wie alle anderen Jugendlichen auch. Sie haben individuelle Fähigkeiten, Interessen und Stärken. Es geht nicht darum, sie in vorgefertigte Rollen zu pressen oder sie auf bestimmte Berufe zu beschränken. Wir haben Menschen überall untergebracht, vom kleinen Handwerksbetrieb in Familienbesitz bis hin zu großen Supermarktketten, Hotels, Catering-Unternehmen, Fast-Food-Restaurants und sogar großen Pharmaunternehmen. Der Schlüssel ist immer derselbe: die richtige Passung zwischen der Person und dem Job zu finden.
SETI vermittelt die Kandidaten in Jobs, die zu ihnen passen. Jeder und jede hat andere Interessen und Stärken und darauf wird Rücksicht genommen.Foto: SETI Center, Ägypten
Angenommen, ein Fast-Food-Restaurant hat eine Stelle zu besetzen. Wie unterstützt SETI den Vermittlungsprozess?
SABRY: Wenn wir bereits erfolgreich jemanden in dieses Restaurant vermittelt haben, können wir auf dieser Erfahrung aufbauen. Wir haben bereits Schulungsmaterialien, kennen die Anforderungen des Jobs und wissen, welche Fähigkeiten benötigt werden. So können wir den Kandidaten so vorbereiten, dass es sowohl seinen Fähigkeiten als auch der Rolle entspricht. Es geht darum, die richtige Wahl zu treffen. Wer eignet sich gut für den Kundenservice und wer besser für die Küche? Erfordert die Arbeit ausgeprägte Kommunikationsfähigkeiten, z. B. im Umgang mit Kunden, oder geht es eher um Konzentration, z. B. in der Qualitätskontrolle? Indem wir die Arbeit auf diese Weise aufschlüsseln, stellen wir sicher, dass die Stellenbesetzung mehr ist als nur das Füllen einer offenen Stelle.
Und wenn diese Fragen geklärt sind?
CHENOUDA: Dann kommt die Probezeit. Sie ist sowohl für den Arbeitgeber als auch für den künftigen Arbeitnehmer von entscheidender Bedeutung, denn wir sind uns von Anfang an einig, dass dies ein Test für beide Seiten ist, der auch von unseren so genannten Job-Coaches begleitet wird.
Was ist die Aufgabe dieser Jobcoaches?
SABRY: Unsere Jobcoaches spielen eine entscheidende Rolle, sie sind die Brücke zwischen unseren Rehabilitationszentren, unseren Klienten und den Arbeitgebern. Sobald ein junger Mensch mit Behinderung eine Arbeit aufgenommen hat, meldet sich der Jobcoach regelmäßig, spricht mit ihm, holt Feedback von Kollegen und Vorgesetzten ein und stellt sicher, dass die Erwartungen auf beiden Seiten erfüllt werden. Ich erinnere mich besonders an einen Fall: Wir haben einen jungen Mann mit Down-Syndrom an ein Fast-Food-Restaurant vermittelt, weil wir dachten, dass er sehr gut in diese Rolle passen würde. Zuerst zögerte der Manager und wollte ihn nur einstellen, wenn er in der Küche, weit weg von den Kunden arbeitete. Allerdings zeigte sich bald, wie warmherzig und einnehmend er war. Eines Tages, als das Restaurant unterbesetzt war, beschlossen das Management, ihn als Kellner einzusetzen. Die Resonanz war überwältigend positiv, die Gäste fragten bei ihren nächsten Besuchen immer wieder nach ihm. Das führte nicht nur zu seiner Beförderung, sondern auch zu einem Umdenken im Unternehmen.
Und was passiert, wenn die Vermittlung nicht klappt?
SABRY: Dann kommt der Jugendliche wieder in unser Rehabilitationszentrum und wir beginnen den Auswahlprozess von vorne. Manchmal stellt sich trotz sorgfältiger Vorbereitung heraus, dass eine Arbeit nicht die richtige ist. Wenn zum Beispiel ein Job in der Küche mehr Kommunikation erfordert als erwartet und dies für jemanden mit Autismus eine Herausforderung darstellt, bewerten wir seine Stärken neu und suchen nach einer geeigneteren Stelle - vielleicht in der Qualitätskontrolle eines Industrieunternehmens, wo strukturiertes und detailorientiertes Arbeiten im Vordergrund steht.
Wie viele Menschen haben Sie bisher erfolgreich vermittelt?
CHENOUDA: Bis 2025 waren es etwa 2.000 Menschen mit Behinderung. Mit der Zeit ist der Prozess für uns reibungsloser geworden, weil wir von Anfang an eine Datenbank aufgebaut haben. Sie hilft uns, die Bewerber effizienter mit den richtigen Angeboten zusammenzubringen. Wir wissen, welche Ausbildungen erforderlich sind, welche Arbeitgeber welche Stellen anbieten und wie der Transport organisiert werden muss, um die Erreichbarkeit zu gewährleisten. Diese Struktur macht den Unterschied.
Wie lange dauert es, einen jungen Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt zu begleiten?
SABRY: Je nach beruflichem Rehabilitationsprogramm kann es einige Wochen bis mehrere Monate dauern. Aber es lohnt sich - sowohl für die Jugendlichen, von denen viele zum Hauptverdiener ihrer Familien werden, als auch für die Unternehmen, deren Mitarbeiter oft von einem besseren Arbeitsklima berichten. Und letztlich profitieren auch die Unternehmen, weil sie als sozial verantwortliche Arbeitgeber wahrgenommen werden.