Maryna Martynenko und Anna Kilas
Mitarbeiterinnen der Caritas Ukraine
14. November 2023 / Lesedauer: 6 Minuten
Wie das gelingt, erklären Maryna Martynenko, Psychologin, und Anna Kilas, Projektkoordinatorin bei der Caritas Ukraine, im Interview.
Caritas international: Was können wir uns, ganz allgemein, unter einem Child Friendly Space vorstellen?
Maryna Martynenko: "Child Friendly Spaces" sind Räume, die in Krisensituationen eingerichtet werden. Sie sollen für Kinder ein sicherer und unterstützender Ort sein und ihnen ein Gefühl von Beständigkeit und Normalität vermitteln. Kriege und Naturkatastrophen sind solche Krisensituationen. Sie zerstören vieles, was Kindern Halt und Struktur gibt. Etwa wenn geliebte Menschen sterben, sie ihr Zuhause verlassen müssen, die Familie getrennt wird, Kindergärten und Schulen geschlossen bleiben. Ein Child Friendly Space ist sozusagen eine Insel der Ruhe in einer chaotischen Außenwelt.
Anna Kilas: In der Ukraine haben wir 2014 begonnen, kinderfreundliche Räume einzurichten, als der Krieg im Osten des Landes begann. Seit Februar 2022 wurden in allen Caritas-Zentren, die Hilfe für Vertriebene leisten, Schutz- und Spielräume eingerichtet. Insgesamt sind es nun 53. In jedem dieser Räume betreuen wir rund 400 Kinder pro Jahr.
Auf welche Weise helfen solche Schutz- und Spielräume den Kindern?
Kilas: Ein Child Friendly Space soll dabei helfen, dass Kinder trotz des Krieges, trotz des Leids, trotz ihrer belasteten Eltern einen Raum finden, wo sie Kindheit erleben können, wo ihre Kinderrechte gewahrt bleiben: Hier treffen sie Freunde, spielen, lernen, hier können sie kreativ sein. Hier finden sie ein Ohr für ihre Sorgen und Nöte und viel Verständnis für ihre Situation.
Martynenko: Die Räume sind auch für die Eltern wichtig. Die Kinder an einem sicheren und guten Ort zu wissen, während man selbst viele Dinge erledigen und schwierige Entscheidungen treffen muss, ist enorm entlastend. Und die psychosozialen Angebote richten sich nicht nur an Kinder, sondern können auch von Eltern wahrgenommen werden.
Wie kann man sich einen Child Friendly Space vorstellen?
Kilas: Es sind freundliche, kindgerechte Räume, gefüllt mit Büchern, Spielen und Lernmaterialien. Die Wände gestalten die Kinder mit, sie sind häufig voller Kinderzeichnungen und Basteleien. Es gibt Kuschelecken, Rückzugsräume, Platz für Sand- und Kunsttherapie und Lernbereiche.
Martynenko: Man muss dazu sagen, dass die Räume sehr unterschiedlich sind. Jeder Raum sieht anders aus, schon allein, weil sich die Örtlichkeiten stark unterscheiden. Allen gemeinsam ist ein gut erreichbarer Luftschutzbunker, da es mehrmals am Tag zu Luftangriffen kommen kann. Dann werden alle Aktivitäten unterbrochen und wir bringen uns mit den Kindern in Sicherheit.
Kilas: Vor allem Jugendliche gestalten die Räume oft selbst mit. Gemeinsam mit dem Fachpersonal diskutieren sie die Raumaufteilung, wünschen sich zum Beispiel einen Bereich mit weichen Sitzkissen, wo sie entspannt miteinander ins Gespräch kommen können, oder eine Computerecke. Wann immer möglich, versuchen wir das gemeinsam umzusetzen.
Sie sprechen von Kindern und Jugendlichen? Wie groß ist die Altersspanne in einem Child Friendly Space?
Martynenko: Allen Kindern und Jugendlichen im Alter von 1 bis 17 Jahren steht es frei, in den Räumen zu spielen, zu basteln, zu lernen oder sich einfach auszuruhen. Natürlich sind die Bedürfnisse der Altersgruppen sehr unterschiedlich. Deshalb bilden wir mehrere Gruppen. Für Jugendliche haben wir ein eigenständiges Programm entwickelt.
Wird im Child Friendly Space auch gelernt?
Kilas: Ja! Unsere Sozialarbeiterinnen und ehrenamtlichen Helfer unterstützen die Kinder beim Lernen und versuchen die Lücken zu stopfen, die der Krieg gerissen hat. Viele Kinder, die aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, besuchen keine örtliche Schule. Stattdessen nutzen sie den Online-Unterricht und halten so Anschluss zu ihren Klassenkameraden und Lehrern. Sie haben Angst, dass ansonsten der Kontakt abreißt und sie nie wieder nach Hause zurückkehren werden. Leider ist selbst dieses Lernen nur eingeschränkt möglich: Lehrpersonal fällt aus, Schulgebäude werden zerstört oder Unterricht wird durch Luftangriffe unterbrochen. Die Kinder beim Lernen zu unterstützen, steht also ganz oben auf unserer To-do-Liste.
Martynenko: Momentan führen wir eine große Studie durch und befragen Kinder, Eltern, aber auch Regierungsbeamte. Wir wollen wissen, ob unsere aktuellen Angebote auch zu den Bedürfnissen der Bevölkerung passen. Die können sich nämlich in Kriegszeiten schnell ändern. Was wir jetzt schon absehen können, ist, dass Nachhilfeunterricht für viele auf der Prioritätenliste ganz oben steht.
Welche Fachleute arbeiten in den Schutz- und Spielräumen?
Kilas: Jeder Child Friendly Space muss mit mindestens drei Fachleuten besetzt sein: Einer Psychologin, einem Sozialarbeiter, einer Animateurin. Hinzu kommen viele freiwillige Helferinnen und Helfer. Die Animateure sind für die Freizeitangebote zuständig, sie organisieren beispielsweise Sportwettkämpfe, Ausflüge in die Natur, Tanzworkshops oder Kinderfreizeiten. Die Sozialarbeiter unterstützen die Kinder beim Lernen, fördern das soziale Miteinander und schaffen eine positive und freundliche Atmosphäre. Sie haben ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Kinder, sie helfen ihnen, ihre Bedürfnisse zu formulieren und Konflikte zu lösen.
Und die psychologischen Fachkräfte?
Maryna Martynenko: Die Arbeit der Psychologen ist zentral und umfasst mehrere Stufen. In einem ersten Schritt, wenn die Kinder neu zu uns kommen, beziehen wir ihre Eltern in die therapeutische Arbeit mit ein. Uns ist wichtig, dass sie verstehen, wie Kinder mitunter auf Traumata oder Stress reagieren. Es gibt Kinder, die einnässen oder einkoten. Kinder, die kaum mehr schlafen oder Essstörungen entwickeln. Kinder, die sich selbst verletzen, sich die Haut ritzen oder Haare ausreißen. Das haben wir alles schon gesehen. Wir führen dann Einzel- und Gruppengespräche mit Kindern und Eltern und versuchen sie in dieser aufreibenden Zeit aufzufangen und für Verständnis zu werben. In einem zweiten Schritt helfen wir den Heranwachsenden, ihren Stress zu reduzieren, zum Beispiel durch Atem- und Bewegungsübungen, durch Gruppengespräche und Rollenspiele. Kinder, deren Zustand sehr schlecht ist, überweisen wir an örtliche Psychotherapeuten. Im dritten Schritt setzen wir auf Erholung und Entwicklung. Das Kind kann nun beginnen, Pläne zu schmieden und sich eigene Ziele zu setzen.
Haben sich bestimmte Methoden als besonders zielführend erwiesen?
Martynenko: In der Arbeit mit Jugendlichen setzen wir auf Abenteuerpädagogik, wobei wir auch auf soziale Herausforderungen Wert legen. In Lwiw beispielsweise haben Jugendliche selbstständig einen Sportplatz gebaut. Sie haben das Grundstück gesucht, es gesäubert und mit einem örtlichen Abgeordneten einen Zuschuss ausgehandelt, mit dem sie ein Volleyballnetz kaufen konnten.
Kilas: Ansonsten arbeiten wir auf Basis eines Stressmanagementmodells, das BASIC Ph heißt und gut bei der Bewältigung von Traumata hilft. Es geht davon aus, dass eine gute Widerstandsfähigkeit der Kinder auf mehreren Säulen beruht, darunter Kreativität und Bewegung. Kreativität wie etwa beim Malen, Schreiben und Theater spielen kann helfen, belastende Gedanken und Gefühle auszudrücken. Körperliche Aktivität reduziert Stress und setzt Glückshormone frei. Beides ist fest in die Arbeit unserer Child Friendly Spaces integriert.
Gibt es weitere Ansätze?
Martynenko: Wir planen auch, die Hibuki-Therapie einzuführen, die in Israel entwickelt wurde. Hibuki ist ein Stoffhund mit sehr langen Pfoten, die das Kind umarmen können. Der Stoffhund blickt sehr traurig - so wie sich viele Kinder in Kriegsgebieten fühlen. Er weckt ihr Mitgefühl, und fast automatisch rutschen sie in die Rolle der sorgenden Person. Sie kümmern sich, spenden Trost und die Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein nehmen langsam ab. Gleichzeitig beginnen sie, ihre eigenen komplexen Gefühle auf den Hund zu projizieren und lernen, sie über das Stofftier zu äußern. Fragt man die Kinder, warum Hibuki so traurig schaut, antworten sie beispielsweise: Weil er sein Zuhause vermisst oder er möchte, dass sein Vater aus dem Krieg zurückkehrt.
Martynenko: Wir haben mobile Teams, die auch zu vertriebenen Familien in abgelegenen ländlichen Regionen fahren und dort ähnliche Aktivitäten, Einzelberatungen und Gruppensitzungen anbieten wie in den Child Friendly Spaces.
Kilas: Unser Ziel ist es, kein Kind verlorenzugeben.
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Ich komme fast jeden Tag in den Child Friendly Space. Ich bin gerne hier. Ich mag den Englischunterricht. Am besten gefallen mir die Bastelangebote mit Bügelperlen und Plastilin, weil ich dann ein Geschenk für meine Mutter basteln kann. Ich mag auch meine Lehrerin Iryna sehr. Wenn ich traurig bin oder mir etwas nicht gefällt, kann ich ihr das sagen.
Wir haben einen sehr schönen Raum. Die Wände sind bemalt, überall hängen Bilder und selbstgebastelte Blumen. Es gibt viele verschiedene Spielsachen und Spiele und es gibt andere Kinder. Ich fühle mich einfach wohl und ruhig hier, es ist warm und ich kann spielen.
Wir machen auch Ausflüge! Im Sommer sind wir viel spazieren gegangen. Am besten hat mir der Spaziergang zur Höhle gefallen oder auch, als wir mit dem Fahrrad zum Kloster gefahren sind und dann Kartoffeln im Wald über dem Feuer gebraten haben. Ich mag es auch, wenn wir ins Stadion gehen, verschiedene Spiele spielen oder Blumen pflücken und daraus Kränze binden.
Anna Maria ist sieben Jahre alt und besucht regelmäßig einen Child Friendly Space der Caritas im Westen der Ukraine.
Das Interview führte Olga Bisyk, Mitarbeiterin in der Öffentlichkeitsarbeit bei Caritas international. Vor Beginn des Krieges arbeitete sie als PR-Referentin für die Caritas Ukraine.
Das Interview erschien erstmals im Spendermagazin 04/2023 im November 2023.