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Ein Beitrag von Regina Kaltenbach
Referentin für Syrien
16. Dezember 2024 / Lesedauer: 0 Minuten
Die Augen meiner syrischen Kollegen und Kolleginnen in Damaskus, Aleppo, Homs, Latakia und Idlib leuchten. Seitdem das Assad-Regime gestürzt wurde, sprechen wir uns jeden Tag. Zwar ist das Internet in Syrien jetzt noch schlechter als vorher, aber Sprachnachrichten kommen durch, mal geht auch ein Video-Telefonat. Aus den Berichten spricht Zuversicht und Tatendrang. Zum ersten Mal, nach all den Jahren Krieg, in denen wir eng zusammenarbeitet haben, höre ich sogar Hoffnung aus den Schilderungen meiner Kolleg_innen. Hoffnung auf Wandel und Veränderung, Hoffnung auf bessere Lebensumstände, Hoffnung auf Frieden und Stabilität, Hoffnung auf ein anderes, neues Syrien.
Doch ich höre auch Sorgen. Einige Kolleg_innen plagen jetzt Zukunftsängste. Sie fragen sich, welche Freiheiten religiöse oder ethnische Minderheiten, wie beispielsweise Christen, Druzen und Kurden, in der neuen Staatsordnung haben werden? Sie trauen den Versprechen der neuen Machthaber (noch) nicht. Werden sie die Minderheitenrechte wirklich, wie angekündigt, wahren? Die Syrer_innen haben in den vergangenen dreizehn Jahren Bürgerkrieg zu viel durchmachen müssen – wer kann es ihnen verübeln, skeptisch zu sein?
Hinzu kommt die Angst vor den Bomben. In den vergangenen Tagen hat das israelische Militär in Syrien hunderte Luftangriffe durchgeführt. Auch das US-amerikanische Militär bombardierte jüngst IS-Stellungen in Syrien. Für die Menschen vor Ort lässt sich schwer identifizieren, wer die Angriffe ausführt und was die Ziele sind. Meine Kolleg_innen sind verängstigt, das Dröhnen der Kampfjets ruft Erinnerungen an die schlimmsten Phasen des Krieges wach.
So geht es gerade vielen in Syrien. Die Menschen haben dreizehn Jahre Krieg hinter sich. Es gibt niemanden, der keine Wunden mit sich trägt. Insbesondere die seelischen Verletzungen werden viel Zeit zum Heilen brauchen. Ich wünsche mir so sehr, dass dieser Umsturz den Anfang von etwas Neuen, von etwas Gutem markiert. Ich wünsche mir, dass die Menschen in Syrien sich einander und sich selbst zuwenden können – und heilen können.
Ich frage mich, was wird jetzt aus …
… Rania*, unserer Projekt-Koordinatorin aus Homs, ein vor Energie und Kampfgeist sprühender Lockenkopf, die tagtäglich kreative Lösungen findet, um Kinder mit körperlichen Behinderungen zu unterstützen. Was bedeutet der Machtwechsel für sie als junge, unverheiratete christliche Frau? Werden die neuen Autoritäten ihre Arbeit mit Kindern mit Behinderung stärker regulieren oder beeinflussen?
Oder aus Sara*, eine Kollegin aus Aleppo, die mich in den vergangenen Jahren beruflich und privat eng begleitet hat und sich im Herbst, nach einem langen inneren Kampf, dafür entschieden hat zu emigrieren. Sie hat ihrem geliebten Aleppo den Rücken gekehrt. Obwohl Sara Kinder über alles liebt, will sie selbst keine haben, weil sie all die mentalen und seelischen Leiden, die 13 Jahre Krieg auch bei ihr verursacht haben, nicht an die nächste Generation weitervererben möchte. Wird sie nun nach Aleppo zurückkehren? Werden ihre seelischen Wunden heilen?
Was wird aus Schwester Noura*, die Leiterin eines Tageszentrum für Kinder mit intellektuellen Behinderungen in Homs, die so viel älter aussieht als sie in Wirklichkeit ist und deren Mut und Hingabe mich demütig werden lassen. Wird sie als christliche Ordensschwester die notwenigen Autorisierungen und Erlaubnisse bekommen, um ihre wichtige Arbeit fortzusetzen?
Was ist mit den Träumen von Azar*? Er ist Projektkoordinator aus Aleppo, trägt stets ein Lächeln im Gesicht, ist Liebhaber der syrischen Kulinarik, und träumt von einem eigenen Restaurant. Wird sich das jetzt noch verwirklichen lassen? Wird die HTS das kulturelle Leben in Aleppo einschränken? Werden wir bei meinem nächsten Besuch wieder gemeinsam Arak trinken?
Wie wird sich Filib* fühlen? Er ist einer unserer Experten für Notunterkünfte und ursprünglich aus Aleppo. Nach 13 Jahren kann er nun endlich wieder in seine Heimatstadt zurückkehren. Wird er sie wiedererkennen? Werden ihn die Häuser-Skelette, die er auch aus Nordwestsyrien kennt, bis in seine Träume verfolgen? Wie wird es für ihn sein, wenn er zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren Weihnachten in der Heimat verbringt?
Boshoco ist Kulturschaffender und NGO-Direktor aus Aleppo und träumt schon jetzt von großvolumigen, flächendeckenden Wideraufbau- und Infrastruktur-Projekten. Von einem neuen Syrien, das nicht mehr in Schutt und Asche liegt. Werden wir es gemeinsam schaffen, genügend Finanzmittel für Wiederaufbau-Projekte zu akquirieren? Wird die HTS die Kultur- und Musikprojekte von Boshoco erlauben?
Wie wird die Zukunft für Rana*, die 2014 in Aleppo geboren wurde und kurze Zeit später mit ihrer Familie nach Deutschland geflohen ist. Sie hat im Freiburger Umland eine neue Heimat und mit dem Gerätturnen ein neues Hobby gefunden. Sie kennt ihren Geburtsort nur aus den sehnsüchtigen Erzählungen ihrer Eltern und älteren Geschwister. Wird sie nun die Möglichkeit bekommen, ihre Heimat irgendwann zu bereisen? Wird sie zurückkehren wollen?
Ich denke dieser Tage auch an Nadia*, Programm-Managerin aus Aleppo, die seit Jahren zwei Vollzeit-Jobs gleichzeitig wuppt, immer eine Lösung für alle administrativen Herausforderungen findet; die aufgrund ihrer zweiten Staatsbürgerschaft Syrien hätte verlassen können, aber geblieben ist. Geblieben, um sich für andere einzusetzen. Wird sie ihren Enthusiasmus bewahren können? Wird sie die Kraft für alles, was jetzt kommt, aufbringen können?
Und was ist mit Dalia*, eine Bekannte, deren Bruder gewaltsam verschwunden ist, und in der jetzt die Hoffnung aufflammt, dass er unter den Überlebenden der Foltergefängnisse sein könnte?
Ich könnte diese Liste ewig fortführen. So viele Schicksale, so viele Menschen, die als Helfer_innen, Kolleg_innen und Freund_innen versuchen werden, das neue Syrien aufzubauen. Mich haben die syrischen Kolleg_innen schon immer tief beeindruckt – dieser Tage tun sie es nochmal mehr. Nur wenige Tage nach dem Umsturz stehen sie in den Startlöchern, sind wieder im Büro, planen die Hilfsmaßahmen. Unter den widrigsten Umständen setzen sie sich für die noch Ärmeren ein und stellen ihre eigenen Bedürfnisse dabei immer hinten an. Sie wollen in Syrien bleiben, das Land mitaufbauen, Hoffnung auf eine bessere Zukunft spenden. Ich hoffe, wir schaffen es – gemeinsam und mit vereinten Kräften.
Für alle Syrer_innen, in Syrien, in den Nachbarländern, weltweit - die heute hoffnungsvoll sind. The future might still be foggy, but we remain hopeful that it will be a brighter future.
*Zum Schutz der betroffenen Person wurden die markierten Namen geändert.