Ein Beitrag von Muriel Schockenhoff
Koordinatorin der Hilfsprojekte in Afghanistan
20. März 2023 / Lesedauer: 3 Minuten
Stellen Sie sich vor, man verbiete Ihnen, Ihr Zuhause zu verlassen. Nicht weil Bomben fallen, ein Virus kursiert oder ein Unwetter aufzieht. Nein, sondern nur, weil sie das falsche Geschlecht haben. Weil sie eine Frau sind. Ihre Wohnung wird von nun an Ihre Welt sein. Eine Welt, die sie nur in Ausnahmefällen verlassen dürfen. Nicht alleine, versteht sich. Nur mit einem männlichen Begleiter. Ihren Körper, Ihr Gesicht müssen Sie dabei bis zur Unkenntlichkeit verhüllen. Ein schmales Rechteck ist ab jetzt ihr Fenster zur Welt. Ihre Arbeit müssen Sie aufgeben. Ihr Schulabschluss, Ihr Studium - vergebene Liebesmüh. Und Sie haben keine Wahl, denn wenn Sie die Regeln brechen, trägt Ihr männlicher Vormund die Konsequenzen.
Als die Taliban im August 2021 Afghanistan im Sturm zurückeroberten, war die politische Zukunft des Landes ungewiss. Was würde die Vorherrschaft der islamistischen Terrorgruppe vor allem für die Frauen und Mädchen im Land bedeuten? Die anfängliche Hoffnung, dass sich die gemäßigten Kräfte der Taliban durchsetzen können, zerplatzte schnell. Bereits im September, einen Monat nach der Machtübernahme, wurden die ersten Dekrete erlassen, die die Rechte von Frauen und Mädchen brutal beschnitten. 29 Dekrete sind es bis heute.
Das Arbeitsverbot für Frauen
Ein letzter trauriger Höhepunkt war das am 24. Dezember 2022 erlassene Arbeitsverbot für Frauen in Hilfsorganisationen. Für unsere Kolleginnen vor Ort bedeutet es das sprichwörtliche Ende ihrer Welt. In den Großstädten Afghanistans aufgewachsen, in einer Zeit, in der Schulbesuche für Mädchen fast selbstverständlich waren, haben sie in den vergangenen 20 Jahren gelernt, studiert, gearbeitet, hatten ein gesellschaftliches Leben. Und nun? Viele unserer Kolleginnen haben seit Heiligabend das Haus nicht mehr verlassen. Sie haben Angst, verhaftet zu werden. Sie sorgen sich, dass die Taliban erfahren, dass sie für eine westliche Organisation arbeiten und sich an ihnen und ihren Familien bitterlich rächen. Sie sind nun Gefangene in ihren Wohnungen, zum Nichtstun verdammt. Sie fühlen sich ausgeliefert, ohne Kontrolle über das eigene Leben und ohne jede Perspektive, wann sich das wieder ändern könnte. Doch da ist auch viel Wut: "Warum dürfen diese Männer über unser Leben entscheiden?!"
Wenn Frauen das Recht auf Arbeit verweigert wird, ist das eine persönliche Tragödie. Gleichzeitig wird hier einer ganzen Gesellschaft das Recht auf sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt verwehrt. 80 Prozent der Frauen, die für Hilfsorganisationen arbeiteten, gaben an, die alleinigen Ernährerinnen ihrer Familien zu sein.
Es gibt keine gute Lösung
Die ohnehin schwere humanitäre Krise in Afghanistan wird durch das Arbeitsverbot weiter verschärft. Denn ohne weibliche Mitarbeitende sind die besonders notleidenden Menschen - Frauen und Kinder - für Hilfsorganisationen nicht mehr erreichbar. Wie sollen Hilfsorganisationen herausfinden, wer welche Hilfe dringend benötigt, wenn sie keine Mitarbeiterinnen mehr haben, die mit den Frauen sprechen können? Denn fremden Männern ist es verboten. Wie sollen wir Nahrungsmittelpakete oder Bargeld an Frauen verteilen, wenn wir keine Kolleginnen mehr haben, die die Hilfsgüter überreichen können? Und wie sollen wir sicherstellen, dass von Frauen keine Gegenleistungen oder Gefälligkeiten eingefordert werden, wenn nicht Frauen die Verteilung in die Hand nehmen und überwachen? Unsere Kolleginnen vor Ort sind Schlüsselfiguren der Humanitären Hilfe. Ohne sie können und wollen wir nicht arbeiten.
Schmerzhafte Zäsur
Das Dekret der Taliban hat uns dazu gebracht, alle Projekte aus dem nichtmedizinischen Bereich zu pausieren (im medizinischen dürfen Frauen noch arbeiten). Dennoch steht unser Entschluss fest, im Land zu bleiben und mit Frauen für Frauen zu arbeiten. Wenn es irgendwie geht. Als im August 2021 die internationalen Truppen Hals über Kopf Afghanistan verließen, fühlten sich die Frauen im Stich gelassen. Mit jedem Erlass der Taliban hat sich dieses Gefühl verstärkt. Wir sind es unseren afghanischen Kolleginnen schuldig, an ihrer Seite zu bleiben.
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