Ein Beitrag von Oliver Müller
Leiter Caritas international
03. August 2022 / Lesedauer: 3 Minuten
Ziemlich müde, ohne meinen Koffer, aber sehr dankbar für die letzten Tage in der Ukraine sitze ich im letzten Zug vom Flughafen in Frankfurt nach Freiburg. Vieles, was ich in der Ukraine gesehen habe, erschien mir durch die ausführliche Berichterstattung merkwürdig vertraut. Und dennoch ermöglichte die Reise viele tiefere Einblicke. Es ist nicht leicht, all diese Eindrücke in wenigen Worten zusammenzufassen. Ich erlebte ein Volk, das schlichtweg ums Überleben kämpft. Drei Begegnungen sind mir besonders im Gedächtnis geblieben:
Irpin - Füreinander sorgen
Alina, eine freiwillige Helferin der Caritas Ukraine, lernte ich bei einer Lebensmittelverteilung in Irpin bei Kiew kennen. Dort wurden rund 1.200 Menschen durch russische Angriffe getötet. Sie ist selbst Betroffene, hat ihr Haus durch einen Raketeneinschlag verloren. Ich stand mit ihr in den Trümmern und wir sprachen darüber, was bleibt, wenn nichts mehr bleibt. Sie findet Halt in ihrem Glauben und möchte trotz der schweren Verluste ihren Beitrag dazu leisten, dass es für alle in ihrem Ort weitergeht. Sie wohnt nun bei ihrer Tochter und deren Kind. Ihr Schwiegersohn kämpft als Soldat an der Front, täglich schwingt die Sorge um ihn mit. Es hat mich sehr beeindruckt, wie Alina ihre Situation annimmt. Sie ist eine starke Frau.
Bucha - Ort der Trauer
Zusammen mit einigen Kollegen stehe ich vor einem Massengrab mit mehr als hundert ermordeten Zivilist_innen und halte ein stilles Gebet. Auf dem Gedenkstein findet sich lediglich das Bild eines namenlosen Jungen, der hier begraben ist. Von den anderen Opfern ist nichts bekannt. Es sind Situationen wie diese, in denen es keine Worte mehr gibt. Die Risse in den Herzen der Überlebenden kann man nur erahnen. Die Mitarbeitenden der ukrainischen Caritas berichten uns immer wieder, wie traumatisiert viele Kinder sind. Sie sprechen oft anfangs gar nicht, tauen erst langsam auf. Die Caritas hat landesweit sehr gute Programme für Kinder, die ihnen ein Stück Normalität zurückgeben oder auch direkte therapeutische Gespräche ermöglichen.
Kiew - Widerstand im Alltag
Das Sozialzentrum der Caritas in Kiew platzt aus allen Nähten, jede Ecke ist genutzt. Es ist eine Freude zu sehen, was hier alles stattfindet. Wir dürfen stolz sein, solch engagierte Kolleginnen und Kollegen zu haben. Viele arbeiten seit über drei Monaten am Anschlag, sie sind ja selbst auch betroffen. Dennoch bewegen sie richtig viel.
Zweimal wurde ich in Kiew Zeuge eines nächtlichen Raketenalarms. Auf das Heulen der Sirenen folgte ein Anruf der Rezeption, und man bat mich, in den Keller zu gehen. Letztlich ist in beiden Fällen in der Stadt selbst kein Angriff erfolgt, aber das Ganze gibt eine Ahnung davon, wie nervenzehrend das Leben in der Ukraine ist. Niemand soll sich sicher fühlen, so die Botschaft der russischen Armee. Die Ukrainerinnen und Ukrainer halten jedoch stand und wehren sich nach Kräften.
Zurück bleiben von dieser Reise viele Begegnungen, die ich nicht vergessen werde. Ich bin froh, dass wir dank unserer Spenderinnen und Spender in der Ukraine wirkungsvoll helfen können. Bei unserer Arbeit wollen wir aber auch die anderen Länder im Blick behalten, die jetzt schon enorm unter den Auswirkungen des Krieges leiden und deren Lage sich in den nächsten Monaten drastisch verschlimmern wird. Die Krise in der Ukraine darf nicht auf Kosten des Globalen Südens gehen!
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