Ein Beitrag von Christine Decker
Referentin Verbandsinterne Kommunikation
10. Juli 2024 / Lesedauer: 4 Minuten
Das erste und letzte Mal war ich vor knapp drei Jahren in Cúcuta, im kolumbianisch-venezolanischen Grenzgebiet. Caritas international finanzierte dort ein großes Hilfsprojekt des Jesuitischen Flüchtlingsdienstes für venezolanische Migranten. In den Jahren und Monaten zuvor waren Hunderttausende illegal nach Kolumbien geströmt und viele von ihnen in der Grenzstadt Cúcuta gestrandet: ohne Aufenthaltsstatus, ohne Arbeitsgenehmigung, ohne Geld. Die illegale Migranten-Siedlung Nueva Alianza am Rande der Großstadt Cúcuta war ein drastisches Beispiel für die große Not, in der Geflüchtete in Lateinamerika leben - und ein Sinnbild für ihren beeindruckenden Kampf für ein menschenwürdiges Leben.
In Nueva Alianza, wo bis heute etwa hundert Familien (rund 400 Personen) leben, lernte ich zwei starke Frauen kennen: Die damals 70-jährige Ordensfrau und Sozialarbeiterin Schwester Teresa Builes und die 42-jährige Alejandra Ramirez, die als Bewohnerin eine Führungsrolle in der jungen Gemeinde von Nueva Alianza übernommen hatte. Ihr heiterer Ausruf "eso es mi palacio!" (das ist mein Palast), klingt mir noch heute in den Ohren. Mit diesen Worten hatte sie mich damals stolz in ihre windschiefe Hütte aus Holzbrettern und Plastikplanen eingeladen.
Nachhaltig beeindruckt hatte mich Alejandras Entschlossenheit, für ihre damals 13-jährige Tochter Dubraska und ihre achtjährige Enkelin Ninoska ein neues, besseres Leben aufzubauen. Die Chancen dafür standen schlecht: Ninoska hat eine Mehrfachbehinderung mit spastischen Lähmungen. Sie konnte nur wenige Schritte selbstständig laufen, konnte nicht sprechen und brauchte eine 24 Stunden Pflege. Trotz dieser Herausforderung und der wenigen Zeit, die ihr neben der Betreuung des Kindes blieb, sprach Alejandra ständig davon, dass sie schon bald Schuhe nähen und ihre eigene Werkstatt aufbauen wolle, um Geld zu verdienen.
Das war vor drei Jahren. Der Abschied von Schwester Teresa und Alejandra war mir damals schwergefallen. Die prekäre Situation von Alejandra ging mir nicht aus dem Kopf. Ich blieb in Kontakt mit Schwester Teresa in der Hoffnung, dass sie einen Therapieplatz für Ninoska finden könnte. Und das tat sie! Im Januar 2022 wurde das Mädchen in eine Fördereinrichtung für Kinder mit Behinderung aufgenommen. Aber der Weg ist weit, einen Fahrdienst für Menschen mit Behinderung gibt es in Kolumbien nicht. Schwester Teresa wusste einmal mehr Rat und organisierte Geld für ein Moped. Seither kann Alejandra das Kind regelmäßig dort hinbringen und wieder abholen. Und sie fing an, ihren Traum von der Schuhmanufaktur umzusetzen.
Als ich im Juni 2024 für meine Arbeit bei Caritas international noch einmal nach Kolumbien reisen sollte, war für mich sofort klar, dass ich einen Abstecher nach Cúcuta machen würde. Ich wollte Alejandra und Schwester Teresa wiedersehen. Es war ein sehr emotionales Wiedersehen. Schwester Teresa ist nach einer schweren COVID-Infektion vor anderthalb Jahren gesundheitlich angeschlagen. Für die kurze Strecke vom Ordenshaus in die Siedlung Nueva Alianza müssen wir ein Taxi nehmen. Alejandra läuft uns dort freudestrahlend entgegen. Doch hinter ihren Freudentränen spüre ich die tiefe Trauer und Verzweiflung über den Verlust ihrer Tochter Dubraska. Das Mädchen hatte sich im vergangenen Jahr das Leben genommen, nur zwei Tage vor ihrem fünfzehnten Geburtstag. Es war ein furchtbarer Schock für Alejandra. Schwester Teresa hatte mich damals weinend angerufen, um mir diese schreckliche Nachricht zu überbringen.
Nun laufe ich zusammen mit Alejandra wieder über die steilen Treppen und Pfade der Siedlung. Vieles hat sich seit meinem letzten Besuch verändert. Manche Hütten sind kleinen Häuschen gewichen, in zwei, drei Hütten haben die Bewohner_innen kleine Läden für Getränke und Süßigkeiten eröffnet und wieder andere sehen verlassen aus. Seit die Grenzübergänge nach Venezuela wieder geöffnet sind, kommen weniger Flüchtlinge nach Kolumbien. Es herrscht ein reger kleiner Grenzverkehr.
Die Arbeit der Caritas und des Jesuitischen Flüchtlingsdienstes geht noch weiter. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Nueva Alianza brauchen rechtliche Beratung, um die Eigentumsrechte für die Parzellen, auf denen sie ihre Hütten errichtet haben, zu klären. Und die Siedlung Nueva Alianza ist trotz aller Verhandlungen mit den zuständigen Behörden vor Ort noch immer nicht an das städtische Stromnetz, die Wasserversorgung und Kanalisation angeschlossen. Bei diesem Thema zeigt sich Alejandras Kampfgeist wieder. Notfalls werde sie eine große Demo organisieren, erklärt sie.
Der Aufstieg zu Alejandras "Palast" ist heute viel kürzer und einfacher als noch vor drei Jahren. Der steile Weg zu ihrer Hütte ist zementiert und die Treppen, die weiter nach oben führen, teilweise auch. Auf der letzten Treppenstufe sitzt Ninoska, Alejandras Enkelin. Sie lacht und winkt, als sie uns kommen sieht. Die inzwischen Elfjährige wirkt auf den ersten Blick sehr viel ausgeglichener. Durch die Therapien hat sie gelernt, sicherer zu laufen und sich zu verständigen. Auch wenn sie nur wenige Worte artikulieren kann, ist sie viel selbstständiger geworden. Sie kleidet sich selbst an, posiert gerne und möchte am liebsten einmal Modell werden.
Alejandras Hütte hat inzwischen einen Zementboden und gemauerte Wände mit zwei Fenstern aus Glas. Drinnen im Haus hat sie ihren Traum wahr gemacht und eine kleine Schuhmanufaktur eingerichtet. Pro gefertigtem Paar Schuhe blieben ihr nach Abzug der Materialkosten umgerechnet vier Euro, rechnet mir Alejandra vor. Mit diesem Geld finanziere sie den Lebensunterhalt für sich und Ninoska und halte sich den Rücken frei für ihr neues Projekt: eine Ausbildung zur Erzieherin. Im vergangenen Herbst hatte sie sich erfolgreich um ein Stipendium beworben, die Ausbildungskosten werden weitgehend vom Jesuitischen Flüchtlingsdienst getragen. Während Ninoska in der Fördereinrichtung ist, studiert Alejandra nun also an der Uni. Das Lernen falle ihr nicht leicht, meint sie. Aber sie wisse schon jetzt, dass sie weitermachen werde, um Therapeutin für Kinder mit Behinderung zu werden. Und da sehe ich sie wieder, diese Entschlossenheit in ihren Augen und weiß, Alejandra wird auch das schaffen!
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