Abbruch, Rückzug, Pichl wird aufgegeben!
Das Haus von Norbert und Beatrice Reith liegt am Ortsrand in Pichl, einem Ortsteil der Gemeinde Manching, im Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm in Bayern. An den Garten der Reiths grenzt ein weites Feld, dahinter fließt die Paar, ein Nebenfluss der Donau. Diese idyllische Lage wurde dem Ehepaar in der Nacht vom 3. Juni zum Verhängnis. Tagelanger Starkregen ließ die Paar aus ihrem Flussbett treten, wie eine Walze bahnte sie sich ihren Weg über das Feld bis zum Dorf.
„Es ging alles unfassbar schnell“, sagt Beatrice Reith, während sie die Fotos auf ihrem Handy zeigt. Sie steht in Wathose vor ihrem Haus, wie in einem See. Die ganze Nacht von Samstag auf Sonntag hätten sie und ihr Mann, die Nachbarn und die Feuerwehr versucht, Pichl zu verbarrikadieren, berichtet Reith. Meterhoch hätten sie Sandsäcke gestapelt, abwechselnd Dammwache gehalten. Doch es half nichts. Zwischen fünf und sechs Uhr am Sonntagmorgen hieß es: „Abbruch, Rückzug, Pichl wird aufgegeben!“
Beatrice Reith hatte gerade noch Zeit, in ihr Haus zu gehen und zwei Jogginganzüge in ihre Reisetasche zu werfen, da schoss das Wasser schon hinein. Ein aufgeregter Feuerwehrmann kam, um sie zu evakuieren. Das Schlimmste, sagt Reith, sei ihre Katze gewesen. Die musste sie zurücklassen. Wenig später habe die Wasserwacht das verschreckte Tier mit einem Boot aus dem ersten Stock gerettet. Norbert, Beatrice Reith und ihre Katze sind jetzt bei Freunden untergekommen. „Vorher waren wir nur lockere Bekannte, jetzt sind wir richtig eng geworden“, sagt Beatrice Reith und lächelt.
Überhaupt ist die Pichlerin, die eigentlich aus Thüringen kommt, trotz ihres Unglücks voller Dankbarkeit. „Andere hat es noch viel schlimmer getroffen“, sagt sie.
Dass Beatrice Reith so denken kann, ist erstaunlich. Denn ihr Haus, das ihr Mann Norbert selbst gebaut hat, ist ein Totalschaden. Knietief stand das Wasser im ersten Stock – Küche, Wohnzimmer und Arbeitszimmer wurden geflutet, der Keller ist untergegangen. Schon jetzt wissen die Reiths, dass sie nicht mehr in ihr Haus zurückziehen werden. Zu tief sitzt der Schock und die Angst vor neuen Hochwassern. Das Ehepaar wird nach einer neuen Wohnung suchen und hofft, zumindest einen Teil der Schäden erstattet zu bekommen. Ihr großes Glück: noch vor einem Jahr haben sie eine Elementarversicherung für das Gebäude abgeschlossen, den Hausrat hingegen haben sie nicht versichert. Hierfür soll es staatliche Hilfen geben.
Caritas-Hilfe in Pichl nach dem Hochwasser
Hilfe bei den Anträgen bekommen Beatrice und Norbert Reith von der Caritas Pfaffenhofen. In einem großen weißen Bus ist das Caritas-Team nach Pichl gekommen, um die Flutbetroffenen zu beraten. Viele Hochwassergeschädigte haben keinen Drucker oder Laptop mehr, Internet und Telefon sind vielerorts ausgefallen. Deswegen haben die Caritas-Berater_innen die Formulare ausgedruckt mitgebracht und füllen sie gemeinsam mit den Betroffenen vor Ort aus. Für die, die es wollen, bringt die Caritas die Anträge auch persönlich aufs Landratsamt.
„Mit unserem Angebot wollen wir den Leuten eine Last abnehmen, niederschwellig und schnell helfen“, sagt Lea Frauenhofer, Mitarbeiterin der Caritas Pfaffenhofen und Teil des Flutteams. Viel wichtiger als die Bürokratie sei jedoch, ein offenes Ohr für die Sorgen und Ängste der Menschen zu haben. „Es ist uns wichtig, jetzt nah an den Betroffenen zu sein, ein persönlicher Ansprechpartner und nicht nur eine Telefonnummer“, sagt Frauenhofer. Denn das Trauma der Flut sei allgegenwärtig. Nicht nur in Pichl, sondern auch in Manching, Baar-Ebenhausen, Hohenwart, Allershausen und Reichertshofen, alles Ortschaften, die das Hochwasser schlimm getroffen hat. Der Caritas-Bus fährt sie alle ab.
Norbert und Beatrice Reith sind froh über die Hilfen der Caritas. Normalerweise könnten sie die Anträge auch selbst ausfüllen – er arbeitet als Beamter, sie in der Finanzabteilung einer Reha-Klinik, man kennt die deutsche Bürokratie. „Aber wir stehen neben uns“, sagt Beatrice Reith. Gestern erst sei sie im Supermarkt gewesen, um eine Tüte Milch zu kaufen, „aber dann konnte ich mich plötzlich nicht mehr erinnern, was ich eigentlich dort wollte.“
Diese Art von Verwirrtheit erleben die Caritas-Beraterinnen im Bus derzeit öfters. „Die Menschen sind im Überlebensmodus, sie funktionieren einfach, aber viele wissen nicht wohin mit ihren Emotionen“, erzählt Lea Frauenhofer. Wenn die Betroffenen auf den Bierbänken der Caritas sitzen, einen Kaffee trinken und Kekse essen, fließen oft die Tränen. Früher oder später, wenn das Wasser einmal abgepumpt ist und der Schockzustand nachlässt, werde der Zusammenbruch bei vielen kommen, befürchten die Caritas-Expert_innen. Für solche Fälle gibt es den sozialpsychiatrischen Dienst der Caritas Pfaffenhofen. Das Caritas-Team hat schon viele Flyer verteilt und hofft, dass viele Betroffene die kostenlosen Hilfsangebote annehmen.
Das Positive sehen
Zurück im Haus der Reiths: Beatrice Reith steht in ihrem Garten, greift durch das offene Küchenfenster und holt einen kleinen Stein heraus, der auf dem Fenstersims liegt. „Das ist mein Dankbarkeitsstein“, sagt sie. „Dankbarkeit ist, was mich das Ganze hier ertragen lässt. Wir wissen nicht, was wir jetzt machen sollen, wir wissen nicht wohin, aber wir sind am Leben. Und das ist das Wichtigste.“
Eine Reportage von Charlott Friederich