Spielen gegen die Einsamkeit
Entspannt steht Käthe Thun im Café Lichtblick und trägt den versammelten Senior_innen spontan ein kölsches Gedicht vor. Die rüstige 95-jährige erzählt von einem Schuster, der erfährt, dass die meisten seiner Kinder wahrscheinlich gar nicht von ihm sind. Die Senior_innen lachen lauthals und applaudieren. An der Wand lehnt Dorothea Gehlen und lächelt zufrieden.
Dorothea Gehlen ist Fluthelferin. Gemeinsam mit ihren Kolleg_innen von Caritas, Arbeiterwohlfahrt, Diakonie und Maltesern organisiert sie alle zwei Wochen von 14 bis 16 Uhr ein Spielecafé für Senior_innen. Das Café Lichtblick, wo der Spieletreff stattfindet, gehört zum Hilfszentrum Schleidener Tal, einem kleinen Ort in der Eifel, südlich von Aachen. In dem Zentrum arbeiten die Hilfswerke gemeinsam.
Die älteren Menschen, die im Café Lichtblick das Kartenspiel Uno und Mensch-ärgere-dich-nicht spielen, hat die Katastrophe im Juli 2021 hart getroffen. "Nach der Flut mussten wir uns alle neu orientieren. Ich habe meine Wohnung verloren, mit allem, was mir lieb und teuer war", erzählt eine Teilnehmerin. Auch die Cafés und Gemeinschaftsräume im Seniorenzentrum, in denen sich die älteren Menschen früher getroffen haben, standen unter Wasser und sind größtenteils noch geschlossen. Dadurch fehlen Treffpunkte in Schleiden. Dorothea Gehlen und die anderen Fluthelfer_innen haben deshalb den Spieletreff aufgebaut. "Innerhalb von sechs Wochen haben sich 25 Teilnehmende gefunden", berichtet Dorothea Gehlen. "Für viele hier ist das Café Lichtblick der einzige Treffpunkt, den sie haben." An den Treffen im Café nimmt auch ein Seelsorger teil. Er fängt die Teilnehmenden auf, wenn sie die Erinnerungen an die Flutnacht überkommen oder sie mit der aktuellen Situation überfordert sind.
Wenn Dorothea Gehlen nach den Spielenachmittagen durch die Straßen des 3.700-Einwohner-Ortes geht, erkennt sie auf den ersten Blick die großen und kleinen Spuren der Flut. Bis heute sind in der Fußgängerzone viele Schaufenster mit dünnen Spanholz-Brettern zugepflastert oder mit schwarzen Plastikplanen zugeklebt. Gehlen deutet auf braune Schlieren an einer Hauswand über ihrem Kopf - "bis dahin hat das Wasser gestanden".
Nahe der Fußgängerzone mündet der Fluss Olef in die Urft. Als der Wasserspiegel stieg, war die Innenstadt schnell überflutet. Dreieinhalb Meter hoch stand das Wasser in den Gebäuden. Seitdem prägen Erinnerungen an den Schicksalstag das Stadtbild. Auf einem Mäuerchen sind ein weißer Engel mit gelbem Kapuzenpullover und das Datum der Flut aufgemalt. Daneben steht ein Schild: "Wir haben unseren Bruder verloren, aber einen Schutzengel gewonnen." Ein paar Straßen weiter ist um einen Baum ein laminiertes Blatt gebunden, auf dem in schwarz und weiß die Namen der Menschen stehen, die bei der Flut gestorben sind.
Dorothea Gehlen lebt in der Nähe der Flussmündung. Vom Balkon ihrer Wohnung konnte sie die Flutkatastrophe mitansehen. Der Sog des Wassers zog Autos in einen Garten auf der gegenüberliegenden Flussseite. Gehlen sah die Scheinwerfer der Fahrzeuge und hörte das Heulen der Alarmanlagen, die von der Wucht des Wassers aktiviert worden waren, bis die Technik den Geist aufgab. Noch in der Nacht packte sie einen Notfallkoffer, um schnell das Haus verlassen zu können, falls das Wasser bis zur ihr aufsteigen sollte. So weit kam es aber zum Glück nicht.
"Zwei Jahre nach der Flut ist es wichtig, dass das normale Leben weitergeht und die Menschen wieder lachen dürfen", findet Dorothea Gehlen. So wie beim Spieltreff. Als sie an einer Tischgruppe vorbeikommt, die Skipbo spielt, fordert eine ältere Frau sie scherzhaft auf: "Setz dich neben Josef, der ist noch zu haben." Gehlen kommt den Wünschen sofort nach: Sie setzt sich neben den älteren Herrn und sie legen unter dem Beifall der Anwesenden lachend die Arme umeinander. Die Nachmittage im Café Lichtblick würden auch ihr Kraft und Hoffnung geben, erzählt Gehlen. "Heute erzählte mir eine ältere Dame, dass sie beim Spielenachmittag das erste Mal seit Monaten wieder gelacht hat. Diese Gespräche motivieren mich, weiter als Fluthelferin zu arbeiten."
Von Katharina Höring, Juni 2023