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Die Elternorganisation Los Angelitos kämpft für die Rechte ihrer Kinder mit Behinderung. Sie sind beides: Bezugspersonen ihrer Kinder und politische Kämpfer für ihre Rechte. Wie das zusammengeht erklärt Julia Martinez, Vorstandsmitglied bei Los Angelitos.
Frau Martinez, Sie sind aktives Mitglied der Angelitos und Mutter eines Kindes mit Behinderung. Wie war ihr Weg zu den "Angelitos"?
Julia Martinez: Sechs Monate nach der Geburt von Tatiana bin ich Mitglied geworden. Wir waren auf der Suche nach Hilfe, weil das gerade am Anfang doch alles sehr viel war, was auf uns eingestürzt ist, auch finanziell. In der Gesundheitsstation haben sie uns dann davon erzählt, dass die Angelitos gleich hier in der Stadt Kinder mit Behinderung unterstützen. Und diese Hilfe hat uns sehr geholfen, zum Beispiel durch die Bewegungstherapie. Anfangs konnte Tatiana sich kaum bewegen, konnte kaum von einem Ort zum anderen kommen, brauchte immer Unterstützung von uns, jetzt geht es immer besser und sie wird jeden Tag unabhängiger. Das war uns ganz konkret eine große Hilfe.
Aber "Los Angelitos" sind nicht nur ein Dienstleister für Therapie-Angebote, sondern verstehen sich vor allem als politische Organisation. Welche Rolle spielt das für Sie?
MARTINEZ: Das ist sehr wichtig und hat verschiedene Aspekte. Zum einen sind wir Eltern uns gegenseitig eine Stütze, lassen uns nicht allein, richten uns gegenseitig auf. Diese Solidarität ist gerade in schwierigen Zeiten sehr wichtig. Aber wir wissen auch, dass wir uns nicht nur um uns selbst kümmern dürfen, sondern über uns hinaus wirken sollten, um die Gesellschaft zu verändern. Denn Menschen mit Behinderung stoßen nach wie vor auf viel Ablehnung. Wir müssen noch sehr viel deutlicher immer wieder sagen, dass Menschen mit Behinderung die gleichen Rechte haben wie alle anderen. Und das müssen wir Eltern anpacken. Mit Demonstrationen, mit unserer Teilnahme an Runden Tischen oder der Einbringung von Vorlagen bei Stadträten zum Beispiel. Damit die Politiker ihrer Verantwortung gerecht werden. Dafür sind wir verantwortlich. Und darauf bin ich stolz. Wir alle sind "Los Angelitos".
Was sind ihre nächsten Ziele?
Martinez: Wir möchten erreichen, dass die Kinder und Jugendlichen selber ihre Stimme und ihre Sicht der Dinge noch viel stärker einbringen als bisher. Innerhalb unserer Organisation, aber auch darüber hinaus, bei Veranstaltungen oder bei der politischen Arbeit. Zum Beispiel haben zwei Jugendliche neulich bei einem Festival die Moderation übernommen. Das war ein Anfang. Sie sollen für sich selbst sprechen. Wir wollen sie dazu immer wieder ermutigen.
Sie sind selber Mutter einer Tochter mit Behinderung. Was sind die größten Probleme mit denen Eltern von Kindern mit Behinderungen hier zu kämpfen haben?
Martinez: Es gibt bis heute eine starke Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Das geht schon bei der Sprache los, wenn ich mir anhören muss, Tatiana sei ein Krüppel. Wir sollten doch in der Lage sein, miteinander zu sprechen, ohne den anderen mit Worten zu verletzen. Und das reicht bis hin zur Verweigerung von grundlegenden Rechten. Alle Kinder mit Behinderung haben das Recht, öffentliche Schulen zu besuchen. Das steht so im Gesetz. Trotzdem wird ihnen das in El Salvador immer wieder verweigert. Zum Glück war es bei Tatiana anders, aber viele Eltern machen schlechte Erfahrungen.
Wann wurde die Behinderung ihrer Tochter festgestellt?
Martinez: Drei Tage nach der Geburt, noch im Krankenhaus, teilte der Arzt uns mit, dass Tatiana die Glasknochenkrankheit hat. Das kam vollkommen unerwartet.
Was waren Ihre ersten Gedanken?
Martinez: Natürlich waren wir sehr besorgt. Mein Mann und ich haben uns viele Gedanken darüber gemacht, wie wir mit der Situation klar kommen werden, was auf uns zukommt. Gott sei Dank, hatten wir alle die Kraft das neue Leben so anzunehmen wie es ist und jeden Tag unser Bestes zu geben, damit es Tatiana gut geht. Sie ist unser Ein und Alles.
Das Interview führte Achim Reinke im November 2018