Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr herzlich begrüße ich Sie hier am Berliner Sitz des Deutschen Caritasverbandes zur Vorstellung des Jahresberichtes 2015 unseres Hilfswerkes Caritas international.
Herr Dr. Müller wird heute insbesondere auf die Situation in Syrien eingehen; während ich mich neben den aktuellen Zahlen zu 2015 und einem kurzen Blick auf Afghanistan einem Aspekt der Fluchtthematik widmen will, der weitgehend aus dem Fokus geraten ist. Neben der dramatischen Situation in Syrien und dem Irak gibt es nämlich mitten in Europa eine Katastrophe, über die deutlich seltener berichtet wird.
Denn durch das Rückführungsabkommen der Europäischen Union mit der Türkei haben sich die Probleme im südlichen Europa nicht aufgelöst. Noch immer harren Zehntausende Flüchtlinge in den Balkanländern, in Griechenland und Italien aus. Viele dieser Menschen leben unter katastrophalen Zuständen. Eine große Zahl von ihnen wohnt in improvisierten Lagern oder Notunterkünften. Diese Menschen warten darauf, irgendwann in ihre Heimat zurückkehren zu können oder aber dorthin weiter ziehen zu dürfen, wo sie sich mehr Unterstützung und eine bessere Perspektive für ihr Leben erhoffen. Offizielle Camps wie in Griechenland meiden viele von ihnen, da die Angst vor einer massenhaften Ausweisung groß ist; sie hoffen, dass sich irgendwann ein Schlupfloch auf dem Weg nach Norden auftun wird. Wie hoch die Zahl der Flüchtlinge ist, die sich derzeit noch in Südeuropa befinden, ist nicht exakt zu bestimmen. Nicht alle von ihnen werden von den Behörden nach der Ankunft erfasst. Laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) liegt die Zahl der offiziell registrierten Flüchtlinge in diesen Tagen allein in Griechenland und den Balkanländern bei mehr als 50.000.
Die sogenannte Balkan-Route ist inzwischen nahezu geschlossen. Das Abkommen mit der Türkei bewirkt, wie politisch gewollt, dass kaum mehr Flüchtlinge über diesen Weg nach Europa gelangen. Das mitverhandelte Umverteilungssystem für Flüchtlinge funktioniert de facto nicht. Bislang wurden knapp 500 Flüchtlinge von Griechenland in die Türkei zurückgebracht. Die Zahl der im Gegenzug auf die EU-Länder verteilten Flüchtlinge beschränkt sich auf ein paar Dutzend.
Es ist höchst bedenklich, dass in diesem Bereich noch immer keine europäische Lösung gefunden wurde. Viele EU-Staaten haben noch nicht einen einzigen Flüchtling im Rahmen der Kontingent-Übereinkunft einreisen lassen. Die Europäische Union wurde auf dem Prinzip der Solidarität erbaut. Sie – die im Jahr 2012 den Friedensnobelpreis erhalten hat – muss nun zeigen, ob sie ihr humanistisches Wertesystem und ihre Glaubwürdigkeit verteidigen kann. Die EU kann die Verantwortung dafür nicht einfach an Drittstaaten wie Libyen abschieben, indem sie ihnen großzügige finanzielle Anreize zur Grenzsicherung bietet. Wir dürfen es nicht autoritären Regierungen oder den Repräsentanten politisch instabiler oder fast zerfallener Staaten überlassen, für uns die Kohlen aus dem Feuer zu holen.
Die Schließung der Balkan-Route hat in Italien und im Mittelmeer eine fatale Situation geschaffen. Noch liegt die Zahl der Menschen, welche die Überfahrt des Meeres auf oftmals schrottreifen Booten wagen, auf dem Niveau des Vorjahres. In Italien sind nach Angaben des UNHCR im ersten Halbjahr des Jahres 2016 mehr als 50.000 Menschen nach einer Fahrt über das Mittelmeer angekommen. Jedoch erwartet die EU-Grenzschutzagentur Frontex einen deutlichen Anstieg der Zahlen. Sie rechnet damit, dass sich künftig 10.000 Menschen wöchentlich allein aus Libyen in Richtung Italien aufmachen. Auch von Ägypten wagen mehr und mehr Menschen die gefährliche Überfahrt nach Italien. Und die Route über das Mittelmeer ist so gefährlich wie eh und je – auch wenn nach Angaben der Bundesregierung in den Monaten Mai/ Juni hier niemand zu Tode kam.
Und wenn es die Menschen trotz aller Gefahren in den Süden Europas geschafft haben, treffen sie auf Staaten, die mit der Versorgung der Flüchtlinge nach wie vor heillos überfordert sind. Griechenland etwa kämpft noch immer mit den Folgen der Finanzkrise. Rund vier Mio. Menschen sind hier selbst von Armut bedroht, 2,5 Mio. haben keine Krankenversicherung. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat inzwischen Alarm geschlagen. Im angrenzenden Mazedonien sieht es nicht besser aus.
Die Versorgung von Flüchtlingen nach humanitären Standards ist in diesen Staaten kaum gewährleistet. Oft springen Hilfsorganisationen in die Bresche, um die Menschen zu versorgen, doch auch sie können die Lücke nicht gänzlich schließen. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Menschen zu unterstützen, die nach Europa gelangen und sich nicht aus eigener Kraft helfen können. Wir unterstützen unsere Partner dabei, einen Teil der festsitzenden Flüchtlinge zu versorgen. Auch die lokale Bevölkerung lassen wir nicht außer Acht. In Griechenland unterstützen wir beispielsweise schon seit mehreren Jahren einheimische bedürftige Familien, die von lokalen Partnern mit Lebensmitteln versorgt werden und psychosoziale Unterstützung erhalten.
Mit unseren Projekten leisten wir auf allen Stationen der Fluchtrouten Unterstützung für diejenigen, die ihre Heimat verlassen mussten. Viele von ihnen sind auf der Flucht vor Terror, Folter oder Diskriminierung: In Syrien und den Nachbarländern, in Nordafrika, in Griechenland und Italien, auf dem Balkan, aber natürlich auch in Deutschland selbst. Die internationale Hilfe erstreckt sich von der Verteilung von Nahrungsmitteln, Wasser, Hygieneprodukten, Medikamenten, Kleidung, Schlafsäcken und Decken über die Bereitstellung von psychologischer Betreuung und Rechtsberatung bis zur Vermittlung oder Finanzierung von Schlafplätzen.
Dabei gehen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die der lokalen Partner oft an die Belastungsgrenzen, um den Menschen in Not zu helfen, einige begeben sich sogar täglich in Lebensgefahr – ihnen allen will ich auch an dieser Stelle meinen großen Dank aussprechen.
Wenngleich die Situation für Flüchtlinge im Süden Europas anzuprangern ist, dürfen wir es uns nicht so einfach machen, die dortigen Länder mit der Bewältigung dieser gewaltigen Aufgabe alleine zu lassen. Es ist nicht in Ordnung, dass zwar die Türkei mehrere Milliarden Euro für die Versorgung und Abwehr von Flüchtlingen von der Europäischen Union erhält, zeitgleich aber die Länder an der südlichen Außengrenze der Gemeinschaft mit der Versorgung derjenigen überfordert sind, die es oft unter Einsatz ihres Lebens dorthin geschafft haben und jetzt weder vor noch zurück können. Wir appellieren an die EU wie auch an die Staatschefs der einzelnen Regierungen auf dem Kontinent, die Anreize für diese Länder zu erhöhen, die Versorgung der Flüchtlinge nach humanitären Standards zu gewährleisten, was auch mit finanziellen Zusagen verbunden sein muss.
Lassen sie mich noch kurz auf die Situation in Afghanistan eingehen, welche neben der im Nahen Osten eine der Hauptursachen für die aktuellen Fluchtbewegungen ist. Die Sicherheitslage in dem Land spitzt sich von Tag zu Tag zu. Die Taliban verzeichneten zuletzt deutliche territoriale Gewinne, denen im vergangenen Jahr mehr als 5.500 afghanische Soldaten zum Opfer fielen. Auch die gewaltsamen Übergriffe auf Mitarbeitende der Regierung und auf internationale Helfer haben zugenommen. Die Zahl der zivilen Opfer liegt auf dem höchsten Stand aller Zeiten – ein wahrhaft trauriger Rekord. Es will nicht in den Kontext dieser Entwicklungen passen, dass es weiterhin Bestrebungen innerhalb der Bundesregierung und der EU gibt, die Zahl der Abschiebungen nach Afghanistan zu erhöhen. Angesichts der Situation in dem Land darf es keine Ausweitung der zwangsweisen Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern geben.
Bisher habe ich konsequent von „Flüchtlingen“ gesprochen. Ihre Situation ist vergleichsweise klar: Sie mussten vor Terror und großer Not fliehen und sind auf Schutz angewiesen. Von ihnen zu unterscheiden ist die Gruppe derjenigen, die vor allem deswegen nach Europa kommen, um hier zu arbeiten. Hier, wie auch bei der Fluchtproblematik, kann eine Abschottungspolitik nicht die Lösung sein. Es müssen noch deutlichere legale und transparente Möglichkeiten geschaffen werden, dass Menschen auch zeitweise legal in Europa arbeiten können.
Da die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer wegfallen würde, könnten Menschenleben gerettet werden. Zudem würde eine solche Politik die Wirtschaft auf unserem Kontinent perspektivisch stärken, die immer mehr auf externe Arbeitskräfte angewiesen ist. Es wäre außerdem eine effektive Entwicklungshilfe, da die Summe der Rücküberweisungen in die Herkunftsländer die für staatliche Entwicklungszusammenarbeit schon jetzt bei weitem übersteigt. Und bei einer Rückkehr in ihre Heimatländer erfolgte damit auch ein erheblicher Wissenstransfer zur Unterstützung der heimischen Gesellschaften. Wenn also klar wäre, wer zum Arbeiten kommt und wer einfach nur Schutz sucht, würden wir uns hier noch effektiver um die Gruppe der schutzsuchenden Menschen kümmern können.
Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie uns nun noch einen Blick auf die Zahlen des vergangenen Jahres werfen, die sie im Detail auch in unserem Jahresbericht finden. Dank der großen Solidarität unserer Spenderinnen und Spender wie auch der öffentlichen Geldgeber konnte Caritas international, das Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes, im vergangenen Jahr 73,89 Mio. € für die weltweite Projektarbeit verausgaben, was eine Steigerung von 24 % im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Mit dieser Summe konnten wir im vergangenen Jahr insgesamt 638 Projekte in 73 Ländern finanzieren. Die Summe der Ausgaben für die Hilfsprojekte für Menschen auf der Flucht beläuft sich auf mehr als 21 Mio. €. 74 % der Ausgaben für die Projekte umfasste dabei die Hilfe nach Naturkatastrophen und Kriegen, allen voran zu erwähnen sind hierbei die Hilfe nach der Serie schwerer Erdbeben in Nepal und die in Syrien und den Nachbarländern. Mit den restlichen mehr als 25 % wurden soziale Projekte für Kinder sowie alte, kranke und behinderte Menschen unterstützt. Die Verwaltungskosten lagen bei 7,9 %.
An Spenden und Zuschüssen sind dem Deutschen Caritasverband für sein Hilfswerk Caritas international im vergangenen Jahr 85,24 Mio. € für die Projektarbeit anvertraut worden. 38,45 Mio. € dieser Gesamteinnahmen stammen von privaten Spendern. Durch öffentliche Zuschüsse und Kirchensteuermitteln konnten wir 44,22 Mio. € für unsere Arbeit einnehmen. Allein für die humanitäre Hilfe in Nepal haben wir 10,6 Mio. € erhalten und damit die höchste Spendensumme aller deutschen Nichtregierungsorganisationen in dieser Katastrophe. Für unsere Projekte für geflüchtete Menschen wurden uns 9,8 Mio. € gespendet.
Das deutlich überdurchschnittliche Gesamtergebnis ist ein Zeichen für die außerordentliche Solidarität unserer Unterstützer mit hilfsbedürftigen Menschen in aller Welt. Für dieses große Vertrauen in unsere Arbeit sind wir sehr dankbar.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!