Unparteilichkeit gilt als das wichtigste humanitäre Prinzip. Was steckt hinter dem Begriff?
Patrick Kuebart: Humanitäre Hilfe richtet sich an die Betroffenen von Krisen und Katastrophen und hat das Ziel, Leben zu retten und menschliches Leid zu lindern. Dabei hat jeder Mensch in solch einer akuten Not ein Recht auf Hilfe, und zwar ungeachtet seiner ethnischen Herkunft, seines Geschlechts sowie seiner politischen und religiösen Überzeugungen.
Die Caritas hat sich der Unparteilichkeit verschrieben. Aber hat sie als katholische Hilfsorganisationen eine Chance, auch so wahrgenommen zu werden?
Kuebart: Schon an unseren Projektländern erkennt man, dass wir uns von der Not und nicht von der Religion leiten lassen. In Afghanistan oder im Nordosten Nigerias arbeiten wir vor allem für die muslimische Bevölkerung. Ähnlich auch in Indonesien: Dort haben wir 2009 nach dem Erdbeben in Westsumatra fast ausschließlich in von Muslimen bewohnten Gegenden Hilfe geleistet. Hier war die Not wesentlich größer als in den mehrheitlich christlichen Regionen. Dieser Fokus auf die Bedürftigkeit der Menschen bringt uns viel Wertschätzung.
Volker Gerdesmeier: Wir sind mit unseren Partnerorganisationen in vielen Ländern aktiv, in denen die Konflikte ethnisch und religiös stark polarisiert sind. Ein Beispiel ist die Zentralafrikanische Republik: Aktuell retten sich viele Muslime vor einer sich als christlich bezeichnenden Rebellenbewegung in unsere kirchlichen Einrichtungen. Das nehmen wir als Zeichen großen Vertrauens in unsere Unparteilichkeit wahr.
Die Unparteilichkeit kommt schon ins Spiel, wenn eine Hilfsorganisation entscheidet, wo sie arbeitet. Welche Kriterien spielen da eine Rolle?
Gerdesmeier: Diese Entscheidungen sind schwierig, weil man letztlich Not gegen Not aufwiegen muss. Entscheidungshilfe geben uns zum Beispiel der „Index der menschlichen Entwicklung“ oder der „Fragile Staaten Index“. Der erste Index versucht, den Wohlstand eines Landes zu messen anhand von Kriterien wie Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, Lebenserwartung und Bildungsgrad. Der andere erfasst, inwieweit ein Staat in der Lage ist, für seine Bürger_innen zu sorgen und sie zu schützen. Auf den unteren Plätzen der so erstellten Ranglisten rangieren vor allem afrikanische Länder. In den allermeisten von ihnen sind wir aktiv, darunter Eritrea, Mosambik und Burkina Faso. Zu entscheiden, welches Land wir mit welchem Budget unterstützen, bereitet mir aber jedes Mal Kopfzerbrechen.
Ist die Not der Menschen der einzige Maßstab?
Kuebart: Nein. Zur Wahrheit gehört auch, dass nicht für jeden Kontext, in dem Menschen größte Not leiden, genügend Hilfsgelder bereitstehen. Oft sind es die medial präsenten Krisen, bei denen sehr viel Geld fließt, während andere Krisen kaum bedacht werden und zu „vergessenen Krisen“ werden. Auch die Tatsache, dass Hilfsorganisationen in einigen Ländern massiv bedroht werden, beschränkt das Prinzip der Unparteilichkeit. In Nigeria etwa können wir nicht in Gebieten arbeiten, in denen die Terrorgruppe Boko Haram das Sagen hat. Das Sicherheitsrisiko für unsere Partner wäre zu groß. Gleichzeitig schmerzt die Tatsache, dass wir den Männern, Frauen und Kindern in dieser Region nicht zur Seite stehen können.
Um sicher arbeiten zu können, müssen Hilfsorganisationen als neutral wahrgenommen werden. Was genau heißt das?
Gerdesmeier: Neutralität spielt vor allem in bewaffneten Konflikten eine wichtige Rolle. Hilfsorganisationen dürfen weder eine der beteiligten Konfliktparteien bevorzugen noch politisch Position beziehen. Sie müssen neutral bleiben. Unsere Strategie ist es, möglichst auf allen Seiten eines Konflikts aktiv zu sein. Ein Beispiel ist die Zentralafrikanische Republik. Dort leisten wir sowohl Hilfe in Gebieten, die von der Regierung kontrolliert werden, als auch in rebellenbesetzten Gebieten. Schwierig wird es, wenn Regierungen den Zugang zu bestimmten Regionen verweigern, um zu verhindern, dass humanitäre Hilfe die Gegenseite erreicht. Dann müssen Hilfsorganisationen eine Entscheidung treffen: Entweder man nutzt den eingeschränkten Zugang, um wenigstens einem Teil der Menschen helfen zu können. Oder man wahrt die eigene Neutralität und Unparteilichkeit und leistet keine Hilfe. Das sind schwerwiegende Entscheidungen, die von Fall zu Fall intensiv diskutiert werden müssen.
Kuebart: Neutralität ist kein Lippenbekenntnis. Es reicht nicht aus, von sich zu behaupten, man handle neutral. Da steckt immer eine Menge Arbeit dahinter: viele Gespräche und klare Absprachen mit allen Beteiligten und dann entsprechend zuverlässiges Handeln für die Menschen in Not.
Ein weiteres wichtiges humanitäres Prinzip ist die Unabhängigkeit. Was hat es damit auf sich?
Kuebart: Unabhängig zu sein bedeutet für Hilfsorganisationen, dass sie frei von wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Einflüssen handeln und ausschließlich die eigenen humanitären Ziele verfolgen.
Gab es Versuche, diese Unabhängigkeit zu unterlaufen?
Kuebart: Im Jahr 2010 hatte das damals FDP-regierte Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) die Idee zu einer zivil-militärischen Zusammenarbeit in Afghanistan. Hilfsorganisationen sollten, so der Plan, überwiegend in den Regionen Hilfe leisten, in denen die Bundeswehr für die Sicherheit verantwortlich war und mit dieser zusammenarbeiten. Dafür stellte die Bundesregierung viel Geld bereit. Caritas international sprach sich klar gegen eine solche Kooperation aus. Hilfsorganisationen müssen nach dem humanitären Bedarf entscheiden, wo sie aktiv werden. Und sie müssen als neutral und unabhängig wahrgenommen werden, damit sie nicht zur Zielscheibe der Konfliktparteien werden. Diese Rollenklärung ist umso wichtiger, wenn ein Staat im Ausland militärisch aktiv ist und dann aus dem gleichen Land Geld für humanitäre Hilfe kommt.
Caritas international finanziert Projekte zum Teil auch mit humanitären Geldern der Bundesregierung. Bedroht das die Unabhängigkeit durch die Hintertür?
Gerdesmeier: Die Bundesregierung ist bekannt dafür, dass sie sich in die Ausgestaltung und Umsetzung der Hilfen nicht einmischt. Öffentliche Gelder geben uns in vielen Regionen der Welt die Möglichkeit, einer großen Zahl von Menschen in Not zur Seite zu stehen. Allein in der Tschadseeregion in Westafrika sind das 300.000 Männer, Frauen und Kinder.
Kuebart: Wenn wir im konkreten Austausch mit dem Auswärtigen Amt sind, dann geht es immer in erster Linie um die Not und wie wir diese mit unseren Projekten lindern können. Gleichzeitig unterliegen die Fördertöpfe und eventuell auch die Zielländer der Hilfen politischen Abwägungen und Interessen. Das ist aus Sicht der Bundesregierung absolut legitim. So ging in den vergangenen Jahren ein großer Teil der humanitären Gelder nach Syrien und in die benachbarten Länder Jordanien, Libanon, Türkei und Irak, die viele syrische Geflüchtete aufgenommen haben. Im Gegenzug führt eine solche Schwerpunktsetzung dazu, dass es Krisen gibt, die nicht mit öffentlichen Hilfsgeldern bedacht werden und zu „vergessenen Krisen“ werden. Es ist unsere Aufgabe, diese im Blick zu behalten und hier andere Wege der Finanzierung zu finden.