Frau Grolig, Herr Gerdesmeier, wie wägt Caritas international zwischen humanitärer Not und Korruptionsrisiken ab?
Volker Gerdesmeier: Unsere Schwerpunktländer, in denen die humanitäre Not am größten ist, sind leider auch Hochkorruptionsländer. Wo der Bedarf an Hilfe am höchsten ist, da sind auch die Risiken am höchsten. Wenn wir sagen würden, das ist uns zu riskant, da können wir nicht arbeiten, könnten wir unser humanitäres Mandat nicht erfüllen.
Bedeutet das, dass Sie in diesen Ländern Korruption in Kauf nehmen?
Sonja Grolig: Auf gar keinen Fall! Korruption ist immer ein klarer Fall von Missbrauch. Stellen Sie sich nur einmal vor, ein Kind stirbt, weil das Geld, das für eine dringend benötigte Behandlung gebraucht wird, aufgrund einer Unterschlagung der Hilfsgelder nicht ankommt. Die Folgen von Korruption in der humanitären Hilfe sind gravierend: Das Ausbleiben von Lebensmitteln und das Fehlen von medizinischer Hilfe gefährdet Menschenleben, und unzureichende Hilfe beim Wiederaufbau nach Katastrophen schmälert die Perspektiven der Betroffenen darauf, wieder in ein gutes, selbstverantwortetes Leben zurückkehren zu können. Wir haben eine ethische Pflicht gegenüber Menschen in Not und gleichzeitig eine Sorgfaltspflicht für den Umgang mit den eingesetzten Finanzen gegenüber unseren Gebern, da es sich um öffentliche Mittel oder Spenden handelt.
Gerdesmeier: Völlig einverstanden. Trotzdem wäre es naiv davon auszugehen, dass humanitäre Hilfe ohne Risiken möglich ist. Null-Korruption und Null-Risiko gibt es nicht. Null-Toleranz gegenüber Korruption allerdings schon! Unsere Partner vor Ort kennen unsere rote Linie. Wir kommunizieren klipp und klar: Wenn ihr Korruption begeht, dann werden wir mit Sanktionen und Konsequenzen reagieren.
Grolig: Entscheidend ist es, die Risiken im Vorfeld zu analysieren und gemeinsam mit den Partnern Risikominimierung zu betreiben. Wir überprüfen auch, ob die jeweiligen Partner ausreichend qualifiziert und organisiert sind, um die geplanten Vorhaben gut umsetzen zu können. Zeigen sich Defizite, etwa in der Buchhaltung, unterstützen wir unsere Partner mit dem Ziel, diesbezügliche Risiken zu minimieren.
Wie genau machen Sie das?
Grolig: Wir haben hier mehrere Möglichkeiten. Eine ist, dass wir die lokalen Mitarbeitenden gezielt fortbilden. Oder wir finanzieren den Partnern eine zusätzliche Expertise. Auch der Einsatz von Beratern kann dazu beitragen, organisationsspezifische Risiken deutlich zu verringern.
Wie erfahren Sie denn überhaupt von Verdachtsfällen?
Grolig: Bei uns melden sich häufig Whistleblower. Das können Mitarbeitende aus den Partnerorganisationen sein oder Externe, etwa andere Geberorganisationen.
Gerdesmeier: Die Hinweise erfolgen aber fast immer auf lokaler Ebene. Die Vorstellung, dass jemand aus einem Dorf im Kongo uns direkt in Freiburg kontaktiert, ist unrealistisch. Auch hier braucht es ein System von lokalen Leuten, die nah dran sind, zu denen die Menschen Vertrauen haben können. Das setzt allerdings voraus, dass die Partner sich der Bedeutung des Themas bewusst sind.
Grolig: So ist es. Wir haben klare vertragliche Vereinbarungen mit unseren Partnern und schulen unsere Mitarbeitenden entsprechend unserer Richtlinien. Dazu gehört auch die Nicht-Akzeptanz von Korruption und die Pflicht, Verdachtsfälle zu melden und nachzuverfolgen. Entscheidend bei der Prävention sind die Haltung unserer Partner und funktionierende interne Kontrollmechanismen bei der Umsetzung der von uns finanzierten Projekte. Unsere Partner haben beispielsweise Sicherheitsräte oder Beschaffungskomitees installiert. Die Verwendung der Mittel und die Dokumentation werden im Vier-Augen-Prinzip geleistet und zusätzlich im Nachgang extern kontrolliert.
Wie muss man sich das in der Praxis vorstellen?
Gerdesmeier: Die Menschen, die Hilfe erhalten, werden informiert, welche Mengen verteilt werden, etwa 15 Kilogramm Nahrungsmittel, zwei Kilogramm Saatgut sowie ein bestimme Anzahl von Werkzeugen. Gleichzeitig wird ihnen eine kostenlose Telefonnummer mitgeteilt, unter der sie sich beschweren können, wenn sie weniger erhalten. Ein solches System kostet Geld und ist aufwändig. Aber es zahlt sich aus. In Kriegsgebieten kann es allerdings auch vorkommen, dass Rebellenbewegungen von den Hilfsgütern profitieren wollen. Verhandlungen mit manchen dieser Gruppen sind lebensgefährlich. Dann müssen wir mit den Partnern abwiegen zwischen der Sicherheit der Mitarbeitenden und unserem humanitären Auftrag.
Es geht also immer um eine Bewertung der Risiken?
Grolig: Ja, und zwar auf mehreren Ebenen. Zum einen prüfen wir intern und durch externe Stellen fortlaufend die Finanzberichte, zum anderen besuchen wir regelmäßig die Partner vor Ort. Und was besonders wichtig ist: Wir bewerten bereits vor Beginn der Hilfsmaßnahmen die möglichen Korruptionsrisiken und entscheiden auf dieser Basis, ob wir sicherstellen können, dass die Hilfen vor Ort dort ankommen, wo sie gebraucht werden.
Was passiert, wenn es im Rahmen von Hilfsprojekten dennoch zu Korruptionsfällen kommt?
Gerdesmeier: Dann stellt sich die Frage: Wie reagiert der Partner? Sanktioniert er das Verhalten des Mitarbeiters? Wird sie oder er entlassen? Werden die Strukturen verändert, die dieses Fehlverhalten ermöglicht haben? In den meisten Fällen geschieht das. Falls nicht oder falls sogar die Leitung oder die Aufsichtsgremien des Partners involviert sind, brechen wir die Zusammenarbeit ab. Das spricht sich vor Ort und in der Region sofort herum und setzt ein wichtiges Signal. Insofern gilt Null-Toleranz, aber nicht Null-Risiko.