Hilfe für Menschen in Not und Machtmissbrauch – das klingt erst einmal nach einem Gegensatz. Warum braucht es solche Schutzkonzepte?
Kristina Spaar: In der humanitären Hilfe haben wir mit Menschen zu tun, die sich in einer schweren Notlage befinden, aus der sie sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien können. Ein großer Teil dieser Menschen ist auch strukturell benachteiligt: Viele haben nur kurz eine Schule besucht, verfügen über eingeschränkten Zugang zu Informationen, vielen fehlt es an Geld, manche sind auf der Flucht fernab von ihrer Familie und ihrer Heimat. All das zusammengenommen führt zu einem großen Ungleichgewicht zwischen denen, die helfen, und denen, die abhängig von dieser Hilfe sind. Die allermeisten Helfer_innen nutzen ihre Privilegien, um Dinge zum Guten zu wenden. Aber es gibt leider immer wieder einzelne Täter_innen, die ihre Macht zum Schaden der Hilfsbedürftigen ausnutzen – auch in unserem Arbeitsfeld. Und genau das gilt es mit Safeguarding zu verhindern, also mit Maßnahmen zur Vorbeugung vor Missbrauch und zum Schutz von gefährdeten Menschen.
Wie kann ein solcher Missbrauch von Macht aussehen?
Spaar: Machtmissbrauch hat viele Gesichter: Menschen, die beschimpft und in ihrer Würde verletzt werden. Kinder, die geschlagen werden, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Frauen, von denen Helfer als Gegenleistung für Nahrungsmittelpakete Sex einfordern. Kinder, die sexuell missbraucht werden. Alle verbindet, dass sie sich nur schwer zur Wehr setzen können.
Was ist Ihre Rolle als Safeguarding-Beauftragte?
Spaar: Einerseits ist es meine Aufgabe, Schutzkonzepte einzuführen, umzusetzen und nachzuführen, die verhindern sollen, dass es überhaupt zu einem Missbrauch von Macht kommt. Andererseits geht es darum, vertrauenswürdige Melde-Mechanismen zu schaffen für die Personen, die dennoch Missbrauch beobachtet oder erlebt haben. Und auch festzulegen, welche Schritte auf die Meldung folgen.
Also Vorsorge und ein vertrauenswürdiges Beschwerdemanagement – wie setzt Caritas international diesen Anspruch um?
Spaar: Caritas international arbeitet weltweit mit 263 Partnerorganisationen zusammen, die die Projekte umsetzen. Mit diesen sind wir vertraglich verbunden und damit auch in der Pflicht, Safeguarding einzufordern. Einige unserer Partner haben Schutzkonzepte entwickelt und wenden diese bereits an. Andere haben Nachholbedarf, bei dem wir sie unterstützen: Gibt es bereits einen Verhaltenskodex, den alle Mitarbeitenden kennen und unterzeichnen? Sind die Verhaltensrichtlinien klar formuliert und entsprechen den Standards? Kennen die Begünstigten der Hilfe unsere Werte und Verhaltensstandards und wissen sie, wie sie uns bei einem Verdacht auf Fehlverhalten kontaktieren können?
Was kann ein Schutzkonzept für eine Frau leisten, von der Sex für Nahrung gefordert wird?
Spaar: Nicht jedes Schutzkonzept ist gleich, es hängt von den Gegebenheiten vor Ort ab. Aber es könnte zum Beispiel in den Leitlinien festgehalten sein, dass bei jeder Lebensmittelverteilung auch Frauen anwesend sein müssen, die den Vorgang beobachten. Dass offensiv kommuniziert wird, dass für Hilfen keinerlei Gegenleistung erwartet wird. Und dass klar ist, wer die Ansprechperson ist, wenn es dennoch zu Fehlverhalten kommt, und wie – gegebenenfalls anonym – Meldung gemacht werden kann.
Gibt es das eine Schutzkonzept, das in allen Projekten weltweit zum Einsatz kommt?
Spaar: Nein, ein Schutzkonzept entsteht immer im Dialog und in enger Zusammenarbeit. Neulich habe ich ein Projekt in Tansania besucht. Die Partnerorganisation, ein Schwestern-Orden, betreibt eine Anlaufstelle sowie ein Rehabilitationszentrum für Mädchen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind. Es war der Wunsch der Schwestern, ein Safeguarding-Konzept zu entwickeln, um die zwölf bis 18 Jahre alten Mädchen so gut wie möglich zu schützen. Dieses haben wir dann im Verlauf von mehreren Monaten gemeinsam erarbeitet. Und nun sind wir in der Phase, es bekannt zu machen.
Kann ein Konzeptpapier dieser Aufgabe überhaupt gerecht werden?
Spaar: Da gehört der Weg zum Ziel. Wir diskutieren in unseren Workshops alltagsnahe und konkrete Situationen und kommen damit zu einem gemeinsamen Verständnis darüber, was Fehlverhalten ist. Es fängt im Kleinen an: Ein Mädchen weint und ist verzweifelt. Darf ich es tröstend in den Arm nehmen oder mit dem Mädchen allein sein? Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Kind „nein“ sagt, wenn es diese Situationen als unangenehm erlebt? Und überhaupt: Was sind unsere Werte, auf die wir uns als Organisation verpflichten, und wie leben wir sie im täglichen Umgang miteinander?
Dennoch wird es vermutlich immer Menschen geben, die ihre Macht missbrauchen. Wie kann man schaffen, dass sich Betroffene melden?
Spaar: Wir bauen in unsere Projekte Feedback- und Beschwerdemechanismen ein. Wie sie ausgestaltet sind, hängt vom Kontext ab. Und auch von den Menschen, für die wir Hilfe leisten. „Menschen in Not“ sind alles andere als eine homogene Gruppe. Wir arbeiten für Kinder und sehr alte Menschen, für Geflüchtete und Menschen, die ihr Dorf noch nie verlassen haben. Für Analphabet_innen und Menschen, die lesen und schreiben können. Das allerwichtigste ist deshalb, mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen und mit ihnen Wege zu finden, die ihnen vertrauenswürdig und gangbar erscheinen, wenn sie uns ein Problem mitteilen wollen.
An wen können sich die Betroffenen ganz konkret wenden?
Spaar: Manchmal ist die Vertrauensperson eine Fachkraft der Partnerorganisation, die ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis zu den Begünstigten hat. In einigen Fällen gibt es einen Kummerkasten, in anderen eine Hotline, die bei Beschwerden angerufen werden kann. Bei Projekten, in die mehrere Dörfer eingebunden sind, können die Beschwerden über Dorfkomitees laufen. In bestimmten Regionen kann auch eine Emailadresse funktionieren. Wichtig ist: Ein guter Beschwerdemechanismus gibt den Begünstigten die Möglichkeit und die Sicherheit, dass sie trotz ihrer Abhängigkeit ein Fehlverhalten melden können.
Und dann?
Spaar: Die Bearbeitung von Meldungen kann unterschiedlich ausgestaltet werden. Nehmen wir an, wir haben eine Hotline eingerichtet, die von einem Mitarbeitenden der Partnerorganisation besetzt ist. Im Idealfall sprechen beide die gleiche Sprache und der Mitarbeitende verfügt über ein Formular, um die Beschwerde zu dokumentieren. Der Mitarbeitende wendet sich dann an die nächste Person, in der Regel aus dem höheren Management, die für solche Fälle zuständig ist. Dann wird entschieden, wer das untersucht. Manche Organisationen haben ein festes Team, andere entscheiden von Fall zu Fall. Es folgen Recherchen und Interviews mit allen Beteiligten, bei denen die Vertraulichkeit unbedingt gewahrt werden muss. Die gesamte Untersuchungsphase wird dokumentiert und dann wird eine Entscheidung gefällt. Wenn sich die Beschuldigung als wahr erwiesen hat, folgen – je nach Schwere des Falls – personalpolitische oder strafrechtliche Konsequenzen.
Gab es solche Fälle auch in Projekten von Caritas international?
Spaar: Ja, im vergangenen Jahr wurden uns insgesamt vier Verdachtsfälle gemeldet. Drei werden noch untersucht, bei einem ist klar: Hier wurde ein Kind sexuell missbraucht. Zieht man in Betracht, dass wir 2021 mit unseren Partnerorganisationen 641 Projekte in 77 Ländern umgesetzt und mehr als sechs Millionen Menschen erreicht haben, erscheint diese Zahl nicht hoch. Aber wir müssen zum einen davon ausgehen, dass wir nicht von allen Fällen erfahren, es also eine Dunkelziffer gibt. Zum anderen ist jeder Fall einer zu viel, und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um Missbrauch zu verhindern.
Wie ging es in diesem konkreten Missbrauchsfall weiter?
Spaar: Die Familie des Kindes hatte sich vertraulich an eine Mitarbeitende der Partnerorganisation gewandt. Diese hat dann – sehr überlegt und professionell – alle weiteren Schritte eingeleitet. Der Beschuldigte, ein Vorstandsmitglied der Organisation, wurde zur Rede gestellt. Er hat zwar den Missbrauch nicht direkt gestanden, sich aber in Schutzbehauptungen verstrickt. Er wurde sofort aller Ämter enthoben. Das betroffene Kind erhielt psychologische Unterstützung und anwaltliche Hilfe. In diesem Fall ist die Aufarbeitung gut gelaufen, in anderen Fällen steht Aussage gegen Aussage, das macht die Sache komplizierter.
Erfolgt in diesen Fällen automatisch eine Strafanzeige?
Spaar: Grundsätzlich ermutigen wir unsere Partnerorganisationen und die Betroffenen, Strafanzeige zu stellen. Aber nicht in jedem Land ist die Polizei vertrauenswürdig, nicht überall funktioniert die Rechtsprechung. Letztlich muss diese Entscheidung bei den Betroffenen selbst und ihren Familien liegen. In diesem konkreten Fall hat die Familie keine Anzeige erstattet.
Was kann noch getan werden?
Spaar: Wir von Caritas international und unsere Partnerorganisationen können schon im Bewerbungsprozess klar machen, dass für uns der Schutz der Menschen in unseren Projekten Priorität hat. Und wir können aktiv nachfragen: „Warum haben Sie sich für die Arbeit mit Kindern entschieden?“ oder „Was macht eine Organisation zu einem sicheren Ort?“ und „Was können Sie dazu beitragen?“ Wenn die Bewerber_innen direkten Kontakt zu Schutzbefohlenen haben, fordern unsere Partner ein erweitertes Führungszeugnis ein und telefonieren mit vorherigen Arbeitgebern. Das gilt selbstverständlich auch für Fachkräfte, die wir aus Deutschland entsenden. Nicht zuletzt geht es auch darum, die Begünstigten in unseren Projekten zu sensibilisieren. Es muss transparent sein, welches Verhalten und welche Hilfsleistungen sie von uns erwarten können. Und dass ihnen diese Unterstützung zusteht, ohne dass sie dafür Belästigungen jedweder Art in Kauf nehmen müssen.
Das Interview führte Stefanie Santo, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei Caritas international.
Ombudsperson
Jede Person, die einen ernstzunehmenden Hinweise oder Verdacht auf Missbrauch, Korruption und betrügerische Handlungen in einem Caritas-Projekt hat, kann sich an Thomas Antkowiak, die neutrale Ombudsperson von Caritas international, per E-Mail unter whistleblower@caritas.de wenden.
Richtlinien zum Nachlesen
Caritas international kooperiert mit einer Vielzahl von Partnern weltweit, um Menschen in Notlagen zu unterstützen und ihre Perspektiven zu verbessern. Es kann dabei zu Situationen kommen, in denen Beteiligte ihre Position zum eigenen Vorteil missbrauchen oder sich auf andere Weise fehlverhalten.
Insbesondere Korruption und sexueller Missbrauch werden von Caritas international nicht geduldet und führen zu entsprechenden Konsequenzen. Im Verhaltenskodex, der Leitlinie gegen Korruption und Betrug, der Whistle-Blowing-Richtlinie und den Regeln für die Ombudsperson ist festgehalten, was der Deutsche Caritasverband bezüglich des Verhaltens seiner Mitarbeitenden und von Partnerorganisationen in Projektländern erwartet. Die Regelsätze legen genau fest, wie sich die verantwortlichen Akteure bei bekannt gewordenem Fehlverhalten zu verhalten haben.
Der Verhaltenskodex verbietet insbesondere die Entgegennahme von sexuellen Dienstleistungen oder Gegenleistungen. Caritas-Mitarbeitende, die Hinweise auf sexuellen Missbrauch entdecken oder erhalten, sind verpflichtet, diese weiterzuleiten.
Die Caritas anerkennt die persönliche Würde und Rechte von Kindern und fühlt sich ihrem Schutz besonders verpflichtet. Sämtliche Mitarbeitenden und Freiwilligen der Caritas sind aufgefordert und verpflichtet, Kindern und jungen Menschen ein schützendes Umfeld zu schaffen, um körperlichem, sexuellem oder psychischem Missbrauch vorzubeugen. Caritas international ist den Empfehlungen des Deutschen Caritasverbandes zur Prävention von sexuellem Missbrauch sowie zum Verhalten bei Missbrauchsfällen verpflichtet.
Auch Caritas Internationalis, die weltweite Caritas-Konföderation in Rom, hat eine Reihe von Dokumenten erarbeitet und beschlossen, um das korrekte Verhalten von Caritas Mitarbeitenden zu sichern und mögliches Fehlverhalten zu sanktionieren. Diese Dokumente sind verbindlich für alle Mitarbeitenden der weltweiten Caritas-Organisationen und damit eine gute Grundlage für den Partnerdialog zur Prävention von Machtmissbrauch.
Die Dokumente können unter den folgenden Links eingesehen oder mit weiterführenden Informationen auf der Website von Caritas Internationalis heruntergeladen werden.