Ein Beitrag von Oliver Müller
Leiter Caritas international
11. April 2024 / Lesedauer: 0 Minuten
Im Sommer 1994 arbeitete ich erst seit zwei Jahren für Caritas international, damals in der Öffentlichkeitsarbeit. Es war eine meiner ersten großen Aufträge, über den Völkermord in Ruanda und seine Folgen zu berichten. Es war eine beispiellose Tragödie. Die Weltgemeinschaft hatte völlig versagt. Trotz einer vorhandenen Schutztruppe vor Ort zeigte die internationale Gemeinschaft über die Jahre viel zu wenig Präsenz und war unfähig, rechtzeitig einzugreifen, als der Genozid ausbrach. Dieses Versagen hat weltweit für Aufsehen gesorgt. Die Massenflucht der Hutu in den Ostkongo im Anschluss war eine weitere erschütternde Entwicklung. Die Region war nicht darauf vorbereitet, eine solch große Anzahl von Menschen aufzunehmen.
Im Juli 1994 bin ich mit einem Hilfsgüterflieger über Nairobi direkt nach Goma, die Hauptstadt des Ost-Kongo, geflogen. Wir starteten in Frankfurt, mit einer Frachtmaschine voller Lebensmittel.
Ich hatte keine Ahnung, was ich vor Ort vorfinden würde – außer, dass es wirklich schlimm werden würde. Vor Ort herrschte extremer Hunger, und dann brach die Cholera aus. Cholera ist relativ leicht zu bekämpfen – wenn sie rechtzeitig erkannt wird. In Goma breitete sie sich wie eine Seuche aus. Es gab keine medizinische Hilfe, kaum Infusionen, kein Wasser. Den Menschen fehlte es an allem.
In Goma angekommen, war ich schockiert und empört über die unzureichende Hilfe vor Ort. 1,2 Millionen Menschen schliefen unter freiem Himmel. Kaum Lebensmittel, verunreinigtes Trinkwasser, überall Schmerz und Tod. Das internationale Versagen, die vielen Todesfälle zu verhindern, beschäftigt mich bis heute.
Auch wir versuchten, mit einfachen Mitteln zu helfen. Aber vor Ort war alles unkoordiniert. Rückblickend erkenne ich, welche Entwicklungen in den vergangenen 30 Jahren stattgefunden haben. Zum Beispiel gab es damals keine Cluster-Meetings, bei denen sich die Verantwortlichen für Wasserversorgung oder für Lebensmittelversorgung trafen. Auch das Prinzip der Lokalisierung, das wir bei Caritas international schon damals lebten, ist heute viel wichtiger geworden. Lokale Organisationen sind oft als erste vor Ort, sie helfen am nachhaltigsten und effektivsten. Lokalisierung steht im Gengensatz zu dem blinden Aktionismus zahlreicher Hilfsorganisationen, den ich 1994 in Goma erlebte.
So füllten sich die Straßenränder mit Leichen, Tote überall. Nach wenigen Tagen hing ein Geruch über ganz Goma, den ich bis heute in der Nase habe, wenn ich mich intensiv daran erinnere. Als junger Referent stellte ich mir die Frage: Was ist der Wert eines Lebens? Ich erinnere mich an eine schreckliche Szene: Ein an Cholera Verstorbener lag mitten auf der Straße. Die Autos fuhren unbeirrt um ihn herum, einige fuhren sogar über die Leiche. Dieser Moment zeigte mir, dass das einzelne Leben in dieser Situation praktisch keinen Wert mehr hatte. Wir müssen alles tun, um so eine Situation zu vermeiden!
Das ist es, was mich bis heute antreibt. Dafür zu sorgen, dass jeder Mensch die gleiche Würde und die gleichen Rechte hat, auch in einer extrem zugespitzten Notsituation.
Oliver Müller, Leiter von Caritas international
Seitdem war ich in unzähligen Kriegs- und Krisengebieten, aber die Reise in den Ost-Kongo 1994 ist für mich bis heute die erschütterndste. Weil das Massensterben vermeidbar gewesen wäre. Ich stand da inmitten des Chaos, als Vertreter einer Organisation, die ihr Möglichstes getan hat, aber gleichzeitig anerkennen musste: Es war nicht genug. Die Katastrophe in Goma war für mich persönlich nicht unbedingt ein Wendepunkt, aber ein Ausgangspunkt für alles, was danach kam.
Ich bin 1996 nochmal nach Goma zurückgekehrt. Damals habe ich die Massenrückkehr der Flüchtlinge nach Ruanda dokumentiert. Es gab eine Stelle, an der im Juli 1994 ein riesiges Massengrab ausgehoben worden war. Als ich zwei Jahre später an dieser Stelle vorbeikam, standen dort hohe Bananenplantagen. Wenn ich heute Bananenpflanzen sehe, denke ich daran. Das werde ich nie vergessen.
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