Ein Beitrag von Stefan Recker
Leiter des Caritas-Büro in Kabul
15. August 2022 / Lesedauer: 3 Minuten
Caritas international: Herr Recker, Sie machen seit Langem auf die Not in Afghanistan aufmerksam. Wie ist derzeit die humanitäre Lage im Land?
Stefan Recker: Mit einem Wort: Fürchterlich. Ich mache diesen Job seit 30 Jahren und kenne Afghanistan schon seit 17 Jahren, aber so ein Elend wie heute habe ich nie erlebt. Es ist keine Nahrungsmittelkrise, sondern eine Kaufkraftkrise. Wegen der ausländischen Sanktionen sind die Wirtschaft und das Bankwesen zusammengebrochen. Die Menschen haben kein Geld, um sich Nahrungsmittel zu kaufen. Obendrein leidet das Land unter dem Klimawandel, es herrscht Dürre. Sehr viele Menschen haben auch deswegen kein Einkommen. Kinder, Alte, Kranke, Schwangere sind davon besonders betroffen. Die Leute verhungern zwar nicht, aber viele sterben an hungerbedingten Krankheiten.
Wie kann Caritas international unter den Taliban humanitäre Hilfe leisten?
Recker: Wir haben in Afghanistan weiter unsere eigenen Projekte im Bereich der sozialen Hilfe. Wir organisieren Hilfe für Minenopfer und arbeiten mit bedürftigen Frauen, Kindern oder Binnenflüchtlingen. Wir führen auch humanitäre Projekte durch, bei denen wir an Hilfsbedürftige Geld verteilen. Die Banken sind zwar leider nicht funktional, aber wir haben Wege gefunden, wie wir in begrenztem Umfang Geld ins Land bekommen. Wir arbeiten konsequent nur mit Partnerorganisationen, die lokal sehr gut vernetzt sind. Und die schaffen es durch zielorientierte Verhandlungen mit den lokalen Behörden, dass Aktivitäten durchgeführt werden können. Wir sind optimistisch, dass die Hilfsprojekte weiterhin laufen.
Wie ist die Lage in Sachen Menschenrechte?
Recker: Vor allem Menschenrechtsaktivist_innen und Frauen, die sich gegen die neue Ordnung auflehnen, müssen Angst haben. Die Repressionen reichen von Gewaltandrohung über Verschwindenlassen bis zu Hinrichtungen von Menschen- und Frauenrechtler_innen. Die Täter kommen in der Regel straflos davon. Andererseits sind die Taliban keine Ordnungsmacht, die alles überwachen kann. Sie eroberten ja vor einem Jahr nicht die Macht, weil sie so stark waren, sondern weil die Regierung so schwach war. Sie sind relativ wenige, nicht ausgebildet und die Polizisten sind nach dem Sturz der Regierung in Massen davongelaufen. Die Kehrseite ist, dass deswegen die Kriminalität im Land stark gestiegen ist.
Wie steht es heute um die Schulbildung von Mädchen?
Recker: Insgesamt ist die Erwerbslage von Frauen prekär. Vor allem, weil sie keine Bewegungsfreiheit mehr haben. Mädchen dürfen momentan nur bis zum Alter von 12 Jahren, also bis zur sechsten Klasse, die Schule besuchen. Danach ist offiziell Schluss. Es gibt aber private Initiativen und versteckte Schulen in Privathäusern, in denen Mädchen teils weiter unterrichtet werden. Die Taliban dulden das teilweise. Die progressiveren unter ihnen wissen, dass sie Ärztinnen und Krankenschwestern später brauchen. Auch junge Frauen, die schon auf Universitäten sind, können diese momentan noch weiter besuchen - das lassen die Taliban zu. Wenn aber keine Absolventinnen von Gymnasien nachrücken, dann werden die Universitäten irgendwann austrocknen.
Wie groß ist der Rückhalt in der Bevölkerung für die Taliban?
Recker: Das ist schwer zu sagen, weil die afghanische Bevölkerung ethnisch zersplittert ist. Unter den Paschtunen, der größten Ethnie, aus der sich die Taliban überwiegend rekrutieren, dürfte die Unterstützung noch am größten sein. Das ist ihre eigentliche Machtbasis. Bei anderen Volksgruppen sieht es schon anders aus. Es herrscht allgemein viel Resignation, dass die vom Westen gestützte Regierung vor einem Jahr so schnell zusammengebrochen ist. Immer wieder mal bilden sich bewaffnete Widerstandsgruppen, die sehr regional begrenzt sind und keine Zukunft haben. Die Taliban sind derzeit die einzige Alternative in Afghanistan und werden sich erst einmal halten. Die Frage ist, ob sie ihre radikalislamische Ideologie dauerhaft durchsetzen werden.
Seit dem westlichen Abzug gilt Afghanistan mehr denn je als Inbegriff des Failed State. Provokant gefragt: Ist es überhaupt sinnvoll, in so einem Land humanitäre Hilfe zu leisten oder zementiert man damit nicht das Drama?
Recker: Ich denke, humanitäre Hilfe ist in jedem noch so menschenfeindlichen Staat eine internationale Plicht. Und ansonsten erhält das Taliban-Regime ja keine Hilfe aus dem Westen. Es gibt keine internationale Entwicklungszusammenarbeit mit ihnen und das zivilgesellschaftliche Engagement musste - zwangsläufig - ohnehin beendet werden. Wir aber müssen jetzt Nothilfe leisten, weil sie die Menschen in die Lage versetzt, zu überleben. Mittelfristig geht es dann um Übergangshilfe. Damit versucht man, eine lokale, grundlegende Wirtschaft zu schaffen, die den Menschen ermöglicht, ohne Hilfe von außen zu überleben. Zum Beispiel könnte man Kleinunternehmen dabei unterstützten, mehr Leute einzustellen, die jetzt auf der Straße stehen. Aber man muss zugleich aufpassen, dass man dadurch nicht die Taliban unterstützt. Wir stehen vor großen Herausforderungen in den nächsten Jahren.
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