Viktor Thiessen steht fast täglich in Kontakt mit seinen Kollegen in Afghanistan: "Wir sind schon durch dick und dünn gegangen, haben so viel erlebt – ich muss einfach wissen, wie die Lage ist", berichtet er bewegt. Der Orthopädietechnik-Meister aus Deutschland hat selbst jahrelang in Afghanistan gelebt und dort 2004 das orthopädische Zentrum in Maimana aufgebaut. Es ist bis heute die einzige Anlaufstelle für Menschen mit Behinderung in der gesamten Provinz. Die einheimischen Orthopädietechniker, die in dem von Caritas international finanzierten Zentrum arbeiten, haben das Handwerk von Viktor Thiessen gelernt.
Ein technischer Mitarbeiter der Orthopädiewerkstatt in Maimana bei der Arbeit: Die Puppe auf dem Foto ist ein Anschauungsstück, ein Modell anhand dem das Team den Eltern, Ärzten und Studenten das Versorgungskonzept erklären können. Foto: Viktor Thiessen / Caritas international
Mittlerweile berät Viktor Thiessen seine Kolleg_innen von Deutschland aus, reist selbst jedoch regelmäßig nach Afghanistan. Inwieweit Thiessen nach der Machtübernahme der Taliban weiterhin nach Maimana kommen kann, ist derzeit offen. Aber er wird es mit der ihm eigenen Beharrlichkeit versuchen.
Beachtliche Erfolge
Die Arbeit des Teams zahlt sich aus: Über 10.000 Menschen mit Behinderung erhielten bereits Unterstützung durch speziell angefertigte orthopädische Hilfsmittel, Reparaturen an bereits vorhandenen Hilfsgeräten und physiotherapeutische Anwendungen.
Thiessen und sein Team investieren zudem viel Zeit in die Aufklärung der Bevölkerung, der Ärzte, Imame und Dorfältesten. Ein Resultat dieser Arbeit: Unter den rund 1.700 Patientinnen und Patienten eines Jahres sind immer mehr Kinder, die – beispielsweise mit einer Fehlstellung geboren – nun frühzeitig Hilfe erhalten, wodurch kostspielige Operationen meist vermieden werden können.
Rollstuhl-Basketball - Barrieren in den Köpfen aufbrechen
Die größte Erfolgsgeschichte begann im Jahr 2008. Auf Anregung zweier Mitarbeiter im Rollstuhl ließ Thiessen den Innenhof der Orthopädie-Werkstatt in Maimana teeren und zwei Basketballkörbe aufstellen. "Damals gab es noch keinen Sport für Menschen mit Behinderung. Die waren immer nur Zuschauer", erinnert sich Thiessen. "Plötzlich konnten die Männer und Frauen selber etwas machen, und dazu noch etwas, was andere nicht konnten." Anfangs mussten die jugendlichen Patienten noch mit einem Essen oder der Übernahme der Transportkosten fürs Training begeistert werden. Doch das Team wuchs schnell zusammen, erarbeitete sich ohne Trainer die neue Sportart und nahm bald an nationalen Turnieren teil. Für Viktor Thiessen spielt der sportliche Erfolg eine Nebenrolle. Ihm ist es wichtig, dass seine Spieler öffentlich wahrgenommen werden. Beim ersten Turnier auf dem heimischen Platz gegen ein Team aus Mazar-e-Sharif waren der Gouverneur und das Fernsehen da. "Dadurch haben viele gesehen, was da entstanden ist."
Prothesen schaffen Lebensqualität - und ein neues Selbstwertgefühl
Ob bei Fehlstellungen der Hüfte, falsch versorgten Wunden nach Verbrennungen, fehlenden Gliedmaßen oder Lähmungen durch eine Polioerkrankung - Kinder und Erwachsene erhalten Dank des orthopädischen Zentrums in Maimana nicht nur individuell angepasste Hilfsmittel und ergänzende Physiotherapie, sondern eine Perspektive für die Zukunft und neue Lebensqualität. Plötzlich können sie wieder laufen, aufrecht sitzen oder zur Schule gehen. Ein Umstand, der Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl wachsen lässt.
Darüber hinaus lernen viele Patient_innen des Zentrums im Anschluss an ihre Behandlung einen Beruf und können sich selbst versorgen. Orthopädietechnik-Meister Thiessen erzählt die Erfolgsgeschichte eines afghanischen Mädchens, das mit einer Kinderlähmung aufwuchs: "Sie konnte sich nur gekrümmt vorwärtsbewegen und musste ihr gelähmtes Bein hinter sich herziehen. Wir haben ihr einen Stützapparat gebaut, so dass sie ihr Bein belasten kann, ohne dass es einknickt. Dadurch kann sie normal stehen und gehen, ohne hinzufallen. Jetzt ist sie eine Mitarbeiterin unserer Werkstatt und baut Prothesen und Orthesen für Patienten, die eine ähnliche Behinderung haben wie sie selbst."
Jede Spende zählt, denn jede Prothese verspricht eine bessere Zukunft
Das orthopädische Zentrum wird seit 2018 über Spenden von Caritas international finanziert. Die Patient_innen werden kostenlos behandelt, denn es gibt keine staatliche Unterstützung für Menschen mit Behinderung. Aktuell arbeiten in der Werkstatt fünf Orthopädietechniker, zwei technische Zuarbeiter, eine Auszubildende und zwei Physiotherapeuten. Hinzu kommen Wächter, Rezeptionisten sowie eine Verwaltungskraft. Ein Lehrer betreut eine kleine Klasse mit Kindern, die aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung schwere körperliche Beeinträchtigungen haben, lernbehindert sind und keinen Platz in den staatlichen Schulen bekommen.
Zur Situation
Der Anteil an Menschen mit Behinderung ist in Afghanistan aufgrund der seit 1978 anhaltenden Kriege und gewaltsamen Konflikte außerordentlich hoch. Aktuelle Schätzungen gehen von 1,5 Millionen Menschen aus. Viele Behinderungen werden durch Minen und andere Waffen verursacht. Kinder sind vor allem von Erbkrankheiten betroffen, auch Kinderlähmung und Skoliose aufgrund einer Mangelernährung treten häufig auf. Die medizinische Versorgung und psychologische Betreuung sind in Afghanistan allgemein schlecht, vor allem in ländlichen Regionen. Angebote für Menschen mit besonderen Bedarfen wie Prothesen oder Physiotherapie sind kaum vorhanden, zudem werden vor allem betroffene Kinder sozial ausgegrenzt.