Ein Beitrag von Jacinta
Streetworkerin für die Caritas Rulenge
01. Juni 2022 / Lesedauer: 4 Minuten
Ich bin Streetworkerin bei der Caritas Rulenge. An meinen ersten Fall erinnere ich mich noch genau. Ich war auf Feldbesuch in einem Örtchen nahe meines Heimatdorfs Rulenge. Ein paar Leute haben mich beiseite genommen und mir erzählt: "Da ist jemand bei uns im Dorf, der kommt nie aus seinem Haus, und niemand geht zu ihm rein." Der Name des Ausgestoßenen war Michael Bokuru. Er hatte Osteomyelitis (eine Knocheninfektion, die durch Bakterien oder Pilze verursacht wird). Michael hatte sich versteckt, weil er Angst vor seinen Nachbar_innen hatte, und sie hatten Angst vor ihm.
"Als ich Michael gesehen habe, musste ich fast weinen"
Es gibt in Tansania vor allem auf dem Land viele Leute, die davon überzeugt sind, dass Menschen mit Behinderung verflucht sind. Deswegen werden letztere versteckt, vernachlässigt, ausgestoßen oder gar misshandelt. Wenn ich ehrlich bin, war auch ich mir lange Zeit nicht sicher, ob Epilepsie, Klumpfüße oder Wasserköpfe nicht vielleicht doch etwas mit böser Magie zu tun haben. Erst durch die Gesundheitstrainings der Caritas habe ich die Gründe und die medizinischen Zusammenhänge verstanden.
Als ich Michael gesehen habe, musste ich fast weinen und mir ist speiübel geworden. In seinem Zimmer hat es bestialisch gestunken, weil die Wunden eiterten und niemand sie versorgte. Ich habe ihm versprochen, bald wiederzukommen. Dann bin ich sofort zum Caritas-Büro geradelt. Zusammen mit einem Mediziner sind wir wieder hin. Michael wurde ins Krankenhaus gebracht. Die Caritas hat seine Operation bezahlt. Nachdem er entlassen wurde, habe ich ihn weiter besucht - jeden Dienstag und Mittwoch. Ich habe ihm geholfen, die Wunden zu waschen und wir haben zusammen Übungen gemacht. Manchmal haben wir uns auch einfach nur unterhalten. 2006 war Michael vollkommen geheilt. Er hat das Dorf verlassen, ein neues Leben angefangen. Manchmal sehe ich ihn noch auf dem Markt in Rulenge. Er ist jetzt verheiratet und hat drei Kinder. Er grüßt mich immer herzlich und erzählt allen um uns herum, dass ich ihn gerettet habe.
Dank der Caritas können Betroffene wieder laufen
Ich mache diesen Nebenjob seit 16 Jahren. Am Anfang war es hart. Einige Leute im Dorf haben mich als Verräterin gesehen, haben mir nicht geglaubt, wenn ich ihnen Behinderungen medizinisch erklären und den Betroffenen helfen wollte. Inzwischen hat sich viel verändert. Heute sehen wir in Rulenge Menschen mit Behinderung auf der Straße. Manche sind jetzt sogar geheilt, weil ihnen die Caritas Operationen vermittelt oder die richtigen Medikamente besorgt hat. Andere haben orthopädische Hilfsmittel, mit denen sie wieder laufen und ein weitgehend normales Leben führen können. Sie alle sind Vorbilder. Sie geben anderen Betroffenen den Mut, sich nicht mehr zu verstecken. Die Leute sehen diese Erfolge auf der Straße, fassen Vertrauen und verlieren ihre Skepsis.
Mit der Zeit wurde es auch für mich persönlich leichter. Ich habe bei der Caritas sehr viel über Gesundheit gelernt. Das hat bei der Erziehung meiner Kinder geholfen und es hat mir Ansehen in der Dorfgemeinschaft eingebracht. Heute kommen viele Nachbarn zu mir, fragen mich bei gesundheitlichen Problemen um Rat. Bei Dorftreffen oder auf öffentlichen Veranstaltungen kläre ich die Menschen über Behinderungen auf. Sie hören mir jetzt zu.
"Durch die Arbeit bin ich eine unabhängige Frau"
Alleinstehende Frauen haben es schwer in Tansania, vor allem auf dem Land. Sie sind von den Männern abhängig und ihre Rechte werden oft verletzt. Wenn der Ehemann gestorben ist, versuchen die Verwandten oft, den Besitz zu übernehmen oder sie zwingen die Frauen zur Wiederheirat. Bei mir ist das anders: Die Leute haben gesehen, dass ich für eine Organisation arbeite, die hinter mir steht. Sie trauen sich nicht, mich zu verletzen. Das Taschengeld, das die Caritas Rulenge ihren Freiwilligen zahlt, hilft mir, meine Familie zu versorgen. Ich habe sechs Kinder, fünf Mädchen und einen Jungen. Alle haben die Schule abgeschlossen, drei sogar studiert. Sie sind heute Lehrer_innen. Meinen Mädchen habe ich beigebracht: Arbeitet hart, verlasst euch nur auf euch, verdient euer eigenes Geld. Vor allem aber steht für eure Werte ein.
Wie funktioniert das Modell mit den freiwilligen Streetworker_innen?
Die Caritas Rulenge sucht ihre freiwilligen Helfer_innen akribisch aus. Sie sind meistens eng in der Dorfgemeinschaft eingebunden, schulisch gebildet und gut angesehen. Alle Bewerber_innen müssen ein mehrstufiges Bewerbungsverfahren durchlaufen. Wenn sie engagiert werden, absolvieren sie zunächst einige theoretische Fortbildungen, um ihr medizinisches Grundwissen aufzufrischen. Dann geht es ins Feld. Die Freiwilligen hören sich um und decken Fälle von Diskriminierung gegenüber Behinderten auf. Einmal im Monat treffen sie sich und tauschen sich aus. Die Fachleute der Caritas Rulenge nehmen sich der betroffenen Personen an, identifizieren die Art der Behinderung und entscheiden, ob das Leiden medikamentös oder durch Physiotherapie gelindert werden kann. Falls eine orthopädische Operation ansteht, organisiert die Caritas den Transport in das staatliche Krankenhaus in die nächstgelegene Stadt Mwanaza oder nach Dar es Salaam. Im Jahr kann die Caritas Rulenge ungefähr 20 Operationen finanzieren. Zu den häufigsten Krankheitsbildern in der Region gehören Epilepsie, zerebrale Kinderlähmung, Klumpfüße, Podokoniose – eine nicht-infektiöse Art der Elephantiasis –, und Wasserköpfe. Caritas international unterstützt das Projekt seit vielen Jahren
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