Straßenkinder weltweit stärken
Bangladesch: Eine Mitarbeiterin von LIFE übt mit Rubina. LIFE bedeutet so viel wie: Verbesserte Lebensplanung durch Ausbildung und Bildund. Die Organisation unterstützt 230 Straßenkinder.Philipp Spalek
Nicht alle Straßenkinder übernachten auf der Straße, nicht alle sammeln Müll oder schnüffeln Klebstoff, nicht alle leben ausschließlich vom Betteln. Und nicht alle Straßenkinder sind Waisen. Doch wann ist ein Kind ein Straßenkind? Ein Kind, das keine elterliche Fürsorge genießt und sich alleine durchschlägt? Eines, das von den Eltern weggelaufen ist, weil es dort die häusliche Gewalt nicht mehr ertragen konnte? Eines, das auf der Straße von Gelegenheitsjobs oder Marktabfällen lebt?
Es ist nicht zuletzt der Blick der Gesellschaft auf jene Kinder, die nicht regelmäßig zur Schule gehen oder gehen können, kein behütetes Zuhause haben und keine Fürsorge erleben, der sie zu Straßenkindern abstempelt.
Die einen denken beim Begriff "Straßenkind" an Kinder, die verwahrlost aussehen, die tagsüber auf der Straße, unter Brücken, in leerstehenden Gebäuden oder Abrissruinen leben und nachts unter Pappkartons schlafen. Andere denken zuerst die vielen obdachlosen Kinder in den Elendsvierteln wachsender Metropolen im globalen Süden, die alleine oder gar zusammen mit den Eltern in Geschäftsvierteln und an Restauranttischen betteln. Viele Menschen sehen in Straßenkindern Opfer von Willkür, Gewalt und Drogendealerei, von sexueller Ausbeutung oder gar Zwangsrekrutierung zu militärischen Diensten. Kinder ohne Fürsorge, die in der Zwangsarbeit in Fabriken landen, auf Baumwollplantagen, im Prostitutionsgeschäft.
Tansania: Teil des Programms für Straßenkinder in Daressalam ist das Schlichten: Die Mädchen lernen zu verhandeln und ihre Anliegen gewaltfrei zu kommunizieren.Wolfgang Fritz / Caritas international
Andererseits werden Straßenkinder oft auch als Täter wahrgenommen, die stehlen, schlagen und beschädigen. Wieder andere erklären, dass Straßenkinderbanden selbstorganisierte Zusammenschlüsse von jungen Menschen sind, die sich eigenständig und nach den ihren gegebenen Möglichkeiten selber darum kümmern, ihre menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, die ihr Recht auf Nahrung, Wasser und Obdach selbst organisieren. Weil es vielerorts keine gesellschaftlichen Strukturen gibt, die diese Rechte gewährleisten oder gar verteidigen würden.
Der Blick auf das Straßenkind als Opfer und als Täter hat mit der Realität der betroffenen Kinder, die zeitweise oder weitgehend ohne Obdach und ohne Fürsorge leben, oft nicht viel zu tun. Hinter den rund 150 Millionen Straßenkindern weltweit - diese Zahl ist eine Schätung der Vereinten Nationen - stehen 150 Millionen persönliche Schicksale. Wer die Kinder mit individueller Sozialarbeit entsprechend ihrer Bedürfnisse für die Zukunft stärken will, muss sich nicht nur in der Kinder- und Jugendpsychologie gut auskennen. Auch die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse sind zu bedenken, um angemessen Unterstützung leisten und Perspektiven für die jungen Menschen eröffnen zu können.
Kindheit ohne Ausbeutung
Die Projekte für Straßenkinder von Caritas international versuchen, orientiert am Bedarf und den lokalen Möglichkeiten Perspektiven zu öffnen. Mal geht es um warme Mahlzeiten, die den Hunger stillen und Mangelernährung vorbeugen, mal um den Schulbesuch, mal um die Suche nach einem Ausbildungsplatz oder einer Pflegefamilie. So fördert Caritas international zum Beispiel für Kinder in Kenia und Bangladesch, die vom Müllsammeln leben und als arbeitende Kinder gelten, den Wiedereinstieg in die Schule, ohne dass sie ihrem Lebensumfeld völlig entrissen werden.
Ein Ort, an dem das Kind ganz Kind sein kann, ohne Stress, ohne Angst vor Erniedrigung und Beschimpfung, wo geschlafen und gespielt, geweint und gelacht werden darf, ohne vertrieben zu werden, ohne Ablehnung zu erfahren: Auch das ist eine wichtige Komponente bei der praktischen Arbeit mit Straßenkindern. Sie haben ein Recht auf Spielen, Fürsorge, Freizeit und Erholung, darauf haben sich 191 Staaten in der Kinderrechtskonvention von 1989 geeinigt. Räume für Freizeit und Spiel sind daher in nahezu allen Straßenkinderprojekten unerlässlich. Therapeutische Methoden zur Bewältigung von Traumata werden oftmals an diese Räume angeschlossen. Denn viele Kinderseelen sind schwer belastet, und die Bewältigung von Gewalterlebnissen ist ebenso wie die Schulbildung für viele Straßenkinder ein unverzichtbarer Baustein für ihre Zukunft.
Selbstermächtigung ist ein zentraler Prozess, wenn es darum geht, die eigenen Bedürfnisse und Rechte zu vertreten. Die jungen Menschen lernen dabei ihre Fähigkeiten positiv für sich und für andere einzusetzen. Um das Lebensumfeld der Kinder aktiv mitzugestalten, vernetzen sich viele Zentren, die Straßenkinder betreuen oder Jugendlichen eine Anlaufstelle bieten, mit Eltern und Sozialarbeitern. Sie kooperieren mit Regelschulen und Jugendämtern, um die Situation der Kinder dauerhaft zu verbessern. Sie fordern, wo es möglich ist, Gemeinden und staatliche Stellen dazu auf, die Rechte dieser Kinder zu gewährleisten, ihnen einen Zugang zum Krankenhaus und zur Schule zu gewähren. Und sie erörtern gemeinsam, welche konkreten Schritte Kinder künftig besser vor wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung schützen. Dabei haben die Kinder das Recht, ihre Meinung frei zu äußern. Auch das steht in der Kinderrechtskonvention.
150 Millionen Straßenkinder - und 150 Millionen Geschichten
Straßenkinder lassen sich statistisch schwer erfassen. Denn nur wenige Straßenkinder haben eine Geburtsurkunde, zudem schwanken die Zahlen je nach Jahreszeit. In Deutschland verbringen rund 9.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene den Großteil des Tages auf der Straße. Weltweit leben von den 150 Millionen Straßenkindern rund 33 Millionen obdachlose Kinder dauerhaft ohne ihre Eltern auf der Straße, bis zu 18 Millionen davon in Indien in den Metropolen Delhi und Mumbai. Doch auch in Kenia verweilen eine Viertel Million Kinder auf der Straße, in Brasilien sind es sieben Millionen.
Martina Backes, aktualisiert im September 2017