Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, dass Sie an dieser Pressekonferenz teilnehmen! Sei es hier in Freiburg
oder am Bildschirm in ganz Deutschland. Es ist eine besondere Pressekonferenz, Herr Neher
sagte es eben, die so in dieser Form für uns vollkommen neu ist. Wie so vieles in diesen
Wochen und Monaten neu und einzigartig ist, weil Corona uns alle vor ungekannte
Herausforderungen stellt. So wie das für Sie und Ihre Redaktionen gilt, gilt das auch für uns
als Hilfswerk.
Seit Ausbruch der Pandemie tasten wir uns in unseren 81 Projektländern wie durch einen
Nebel. In quasi allen Ländern, in denen wir tätig sind, mangelt es an Testkapazitäten und
verlässlichen nationalen Statistiken, die als Grundlage für eine treffsichere Analyse der
Hilfsbedarfe für uns so wichtig wären. Mit einer gewissen Erleichterung notieren wir
einerseits, dass das Virus sich in Afrika bislang langsamer zu verbreiten scheint als zunächst
befürchtet worden war, stellen andererseits aber auch mit Sorge fest, dass das Corona-Virus in
Lateinamerika mit immer größerer Geschwindigkeit um sich greift. Warum das im einen wie
im anderen Fall so ist, darüber gibt es begründete Vermutungen und noch mehr Spekulationen, aber wir wissen es schlicht in vielen Fällen nicht mit der notwendigen Sicherheit.
Was wir wissen ist, dass der Hilfebedarf durch Corona weltweit stark gestiegen ist. Allein wir
als Caritas international haben seit März mit unseren Corona-Projekten mehr als 600.000
Menschen weltweit unterstützen müssen. Diese Hilfsprojekte reichen von der medizinischen
Ausstattung in Gesundheitsstationen bis hin zu Lebensmittelverteilungen für Tagelöhner,
denen durch den Lockdown ihre Einkünfte weggebrochen waren. Das war und ist eine
weltweite, quasi zeitgleich ablaufende Krisen-Reaktion, wie es sie in dieser Form seit
Bestehen unseres Caritas-Netzwerkes nie zuvor gegeben hat. Die zurückliegenden Wochen
und Monate waren insofern eine historische Zeit für uns. Möglich war diese Leistung, gerade
angesichts der globalen Reisebeschränkungen, nur dank unserer lokalen Partner in166
Ländern. Wir erkennen darin einen deutlichen Beleg für die Vorteile einer konsequenten
Lokalisierung von Entwicklungs- und Katastrophenhilfe, wie wir sie als Caritas seit unseren
Anfängen betreiben.
Über die neue, derzeit im Fokus der Öffentlichkeit stehende Gesundheits-Krise, dürfen wir
aber die "alten", uns schon lange begleitenden Krisen und Katastrophen, nicht vergessen. Mit
"uns" meine ich uns als Hilfswerk, aber auch die uns unterstützende Öffentlichkeit. Wir
dürfen nicht vergessen: In vielen Teilen dieser Erde war Corona nur eine weitere Katastrophe
unter vielen anderen, und in vielen Fällen nicht einmal die lebensbedrohlichste. Anders als in
Europa, wo wir die Corona-Krise als gravierendsten Einschnitt seit dem Zweiten Weltkrieg
erleben.
Wer beispielsweise als Rohingya aus seiner Heimat in Myanmar fliehen musste, der hat nicht
nur die traumatische Gewalt in seiner Heimat durchlitten. Das war nur der Anfang. Diese
Flüchtlinge haben auch Hunger gelitten, haben auf ihrer Odyssee die in der Region grassierenden Pocken und Ruhr überlebt sowie schließlich, zuletzt im Mai, Zyklone in ihrer neuen Heimat Bangladesch überstanden. Ähnliches ließe sich, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, von sudanesischen Bauern berichten, die derzeit unter Krieg, Dürre, Masern und Heuschreckenplage leiden. Das Leben und Überleben mit multiplen Krisen und Katastrophen gehört für viele Menschen weltweit leider zum Alltag.
Herr Neher nannte eben bereits die aktuellen Daten und Trends der Humanitären Hilfe. Lassen Sie mich dem nur eine Zahl hinzufügen: Auch dieses Jahr werden durch ansteckende Krankheiten wie HIV, Malaria, Tuberkulose und Hepatitis wieder bis zu vier Millionen Menschen sterben. So wie im Jahr 2019. Und in den Jahren davor auch schon. Also jeweils deutlich mehr als die 500.000 Menschen, die bislang an Covid19 gestorben sind. Allein an Tuberkulose starben also mehr als drei Mal so viele Menschen wie bislang an Covid19. Ich sage das nicht um Corona klein zu reden. Corona ist eine furchtbare Geißel, die unser aller Leben vermutlich noch lange prägen wird. Weltweit ist das Virus jedoch für viele Menschen
nur ein Lebensrisiko unter vielen. Dessen sollten wir uns bewusst sein, damit andere Notlagen
wie etwa die Heuschreckenplag ein Ostafrika nicht vollständig vom Radar der Weltöffentlichkeit verschwinden. Wir werden daran auch die deutsche Politik immer wieder erinnern, die in den vergangenen Wochen und Monaten durch die nationalen Hilfspakete uns allen deutlicher denn je vor Augen geführt hat, was bei entsprechendem politischem Willen auch in anderen Politikbereichen an Tatkraft möglich ist. Was möglich wäre in der globalen Armutsbekämpfung. Was auch möglich wäre weltweit im Kampf gegen den Klimawandel.
Was den Kampf gegen Corona betrifft, so stellen wir uns auf eine lange vor uns liegende Wegstrecke ein. Dabei ist als Lehre aus den ersten vier Monaten dieser Pandemie aus unserer Sicht besonders wichtig, dass wir als Hilfswerk aber auch als Weltgemeinschaft regional angepasste Lösungen auf die globale Bedrohung finden. Vor allem in armen, marginalisierten Bevölkerungsschichten führten die Restriktionen und Mobilitätsbeschränkungen zunehmend zu großem Leid, weil etwa im informellen Sektor nicht mehr gearbeitet werden konnte. Das hatte zur Folge, dass Hunger und Armut das Leben verarmter und
am Rande der Gesellschaft lebender Menschen in immer mehr Ländern mittlerweile stärker bedrohen als das Coronavirus. Nicht umsonst sprechen wir mittlerweile von der Hunger-Pandemie.
Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie, das ist sicher keine zu gewagte Prognose, werden uns weltweit in vielen Ländern wie ein langer Schatten verfolgen, selbst wenn die gesundheitlichen Folgen irgendwann kontrollierbar sein sollten. Deshalb gilt: Es gibt nicht die eine Lösung im Kampf gegen Covid19, die für alle passt. Wo im gesamten Land nur vier Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen wie im Südsudan, müssen andere Wege gefunden werden, als in Südafrika, in Indien oder gar in europäischen Ländern. Die zweite Lehre der Pandemie-Hilfe bezieht sich auf die eklatanten Defizite in der Katastrophenvorsorge. Mit großem Erstaunen haben wir alle festgestellt, wie unvorbereitet
wir in weiten Teilen der Welt in die Pandemie geschlittert sind. Wie wenig es an Notfallplanung gab. Positive Ausnahmen waren afrikanische Staaten, die bereits Erfahrungen in der Ebola-Bekämpfung gesammelt hatten, sowie Teile Asiens. Insgesamt aber erkennen wir bei der Virusbekämpfung ähnliche
Defizite wie beim Klimawandel. In beiden Bereichen ist die Krisen- und Katastrophenprävention jahrzehntelang systematisch vernachlässigt worden, obwohl wir alle theoretisch um die Bedeutung des präventiven Handelns wussten. Hier wie dort gilt jedoch, dass Vorsorge kein populäres Thema ist. Vorsorge ist kein Thema mit dem Politiker Wählerstimmen, Hilfswerke Spenden oder Medien viele Leser gewinnen können. Für Prävention gibt es keinen Ruhm zu ernten. Es ist offensichtlich, dass es hier einen blinden Fleck gibt, der für viele Menschen tödliche Folgen hat.
Erlauben Sie mir abschließend noch einige Anmerkungen zu den globalen Trends der Humanitären Hilfe, die mir wichtig erscheinen. Wir erleben weltweit diesbezüglich aktuell zwei gegenläufige Entwicklungen, die uns große Sorgen machen. Einerseits nimmt die Zahl der Hilfsbedürftigen deutlich zu, wie Herr
Neher eben ausführte. Andererseits schrumpfen die Handlungsspielräume für Hilfsorganisationen durch verschiedene Entwicklungen von Jahr zu Jahr.
Mit Blick auf die Uhr will ich hier nur einige Stichworte kurz umreißen, führe das in unserer
Fragerunde gleich aber gern weiter aus.
- Extrem besorgniserregend ist zum einen, dass die Gefährdung für humanitäre Helfer kontinuierlich wächst. So hat sich etwa die Zahl der jährlich getöteten Helfer seit Ende der 90er Jahre bis heute verdreifacht. Die Gesamtzahl der Zwischenfälle hat sich sogar versechsfacht.
- Große Sorge bereitet uns aber auch die starke Politisierung und Instrumentalisierung der Humanitären Hilfe. Ein Beispiel haben wir im Februar 2019 erlebt, als die US-Administration zu Propagandazwecken einen US-Hilfskonvoi an der venezolanischen Grenze auffahren ließ. Ein ganz anderes, aktuelles Beispiel ist die Auseinandersetzung im UN-Sicherheitsrat um die Offenhaltung der türkisch-syrischen Grenzübergänge für humanitäre Hilfe. 2,6 Millionen Flüchtlinge im Norden von Syrien sind in den vergangenen Tagen zum Spielball politischer Interessen geworden. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist beschämend: Nur noch einer von einstmals vier Grenzübergängen steht nun noch zur Verfügung, um lebensrettende Hilfe ins Land zu bringen. Das ist viel zu wenig, um alle Hilfesuchenden angemessen versorgen zu können. 1,3 Millionen Menschen, darunter 500.000 Kinder, werden in der Region keine Hilfe mehr erhalten. Alle an der Entscheidung Beteiligten wissen das auch.
Doch um das Leben und den Hilfebedarf der Zivilbevölkerung, wie es der humanitäre Imperativ verlangen würde, ging es den zentralen politischen Akteuren in beiden Fällen nicht. Humanitäre Hilfe und damit auch das Leben der Zivilbevölkerung dienten vielmehr im einen wie im anderen Fall nur als Druckmittel, um eigene politische Positionen durchzusetzen. Ich will es bei diesen beiden Beispielen bewenden lassen, es gäbe zahlreiche weitere besorgniserregende Entwicklungen wie etwa die problematische Doppelrolle von Ländern wie Saudi-Arabien als aktive Kriegspartei und zugleich größter humanitärer Geldgeber im Jemen.
Es ist hoffentlich auch so deutlich geworden, dass die Rahmenbedingungen für humanitäre Helfer sich in den vergangenen Jahren dramatisch verschlechtert haben. Die Zunahme an Einschränkungen und Repressionen,
denen Hilfsorganisationen aus gesetzt sind, sind mittlerweile so massiv und vielgestaltig, dass unsere Möglichkeiten, Menschen in Not beizustehen, stark beschnitten werden. Das gibt uns Anlass zu großer Sorge.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Oliver Müller, Leiter Caritas international